Blutgeld
Minuten stand er von der Bank auf und ging Richtung Süden, auf eine Ecke des Parks zu, die durch eine Rabatte von Büschen abgeschirmt war. Als Hoffman dieser Ecke zustrebte, erhob sich auch der Glatzkopf. Er schlenderte langsam herüber, gesellte sich zu dem Kinderpulk und blieb hin und wieder stehen, um sich auf eine Bank zu setzen und seine Pfeife neu anzuzünden, sodass Hoffman, hätte er sich umgesehen, nicht gemerkt hätte, dass ihm jemand folgte.
Hoffman suchte Lina und machte dann wieder kehrt. Er ging an dem Glatzkopf vorbei, der unauffällig am Geländer lehnte, das den See säumte, und die Boote beobachtete. Sam tat ihr leid. Er sah jetzt so verwirrt und besorgt aus. Wo war sie? Wieso war sie nicht zu dem verabredeten Treffen erschienen?
Der Park erstreckte sich fast einen Kilometer nördlich entlang dem See. Hoffman stellte sich auf eine Bank, um besser sehen zu können, und ging dann seeaufwärts. Der Glatzkopf schlenderte langsam hinterher. Er hatte jetzt seine Pfeife ausgemacht, damit der Geruch ihn nicht verriet. Hoffman ging mit wachsender Sorge schneller. Lina entschied, dass sie ihren Posten im ersten Stock verlassen musste, wenn sie nicht riskieren wollte, ihn ganz aus den Augen zu verlieren. Sie ging nach unten in die Rue de Lausanne und hielt sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, anstatt den Park zu betreten. Alle paar Sekunden erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf Hoffman durch die Büsche. Sie gingen weiter Richtung Norden, in unsichtbarer Synchronizität, vorbei an dem Museum für Technik und dem Denkmal für die Toten. Wenigstens hatten sie hier Denkmäler, dachte Lina.
Sie spielten jetzt ein Gedankenspiel miteinander, Sam und Lina, dessen Ziel es war, ohne zu kommunizieren, ihre Züge zu koordinieren. Die Prämisse des Spiels war simpel: Zwei Leute haben ein Treffen vereinbart, aber einer erscheint nicht. Was sollte jeder, unabhängig vom anderen, tun, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass man einander doch noch findet? Sollte jeder den ursprünglichen Plan aufgeben und zum nächstwahrscheinlichen Treffpunkt gehen, zur Brücke beim Jet d’Eau etwa oder zum Palais des Nations? Oder sollten sie aufeinander vertrauen, dass sie sich irgendwann doch am ursprünglichen Treffpunkt finden? Sie sah Hoffman durch die Bäume. Er saß immer noch auf seiner Bank und machte sich zweifellos die gleichen Gedanken.
Lina setzte bei ihrer geistigen Wette auf Vertrauen: Hoffman würde bei seinem ursprünglichen Plan bleiben. Er würde dorthin zurückgehen, wo er losgegangen war, und sie würde versuchen, ihn unterwegs abzufangen. Sie blickte den Park entlang nach einer Stelle, wo er stehen bleiben könnte. Es gab einen kleinen Pavillon mit Toiletten und einer Touristeninformation. Er befand sich auf der Innenseite direkt neben dem Zaun, in der Nähe des Weges, der zum Haupttor führte. Hoffman könnte dort vorbeigehen, um nach Lina zu suchen oder einfach um sich zu erleichtern. Sie steuerte auf das Gebäude zu und begann dann zu laufen. Es war entscheidend, dass sie vor Hoffman und seinem Verfolger dort ankam.
Lina hatte den Pavillon bald erreicht. Das kleine Gebäude war für den Frühling frisch gestrichen worden, in einem kühlen alpinen Weiß. In der Ferne sprudelte der Jet d’Eau über der Stadt wie die Wasserfontäne eines unsichtbaren Wals. Drinnen war die Touristeninformation, mit Stadtplänen geschmückt, aber das kam ihr nicht wie der richtige Ort zum Warten vor. Der Glatzkopf würde sie dort ebenso leicht entdecken wie Hoffman. Vorne war eine Veranda mit Gängen nach links und rechts, zu den Herren- und Damentoiletten. Das war der richtige Platz.
Sie postierte sich hinter der hölzernen Absperrung, die den Eingang zur Damenseite abschirmte. Von dort konnte sie jeden sehen, der den Pavillon betrat, ohne selbst gesehen zu werden. Während sie sich bei den stämmigen Schweizerinnen entschuldigte, die sich nacheinander an ihr vorbeizwängten, um zu den Toiletten zu gelangen, fragte sie sich, ob sie falsch gewettet hatte. Vielleicht hatte Hoffman eine andere Lösung für das Rätsel gefunden. Vielleicht hatte er es einfach aufgegeben. Sie sah auf ihre Uhr. Es war schon nach halb eins. Wenn er nicht bald käme, würde er gar nicht kommen. Schließlich, gerade als Lina ihr Versteck verlassen wollte, kam Sam Hoffman rastlos die Stufen zur Veranda hoch. Als er oben ankam, wandte er sich von ihr weg zur Herrentoilette.
«Sam», flüsterte sie. «Ich bin’s, Lina. Dreh dich nicht
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