Blutgeld
überlegt, was sie als Nächstes tun sollte, und eingesehen, dass sie Hilfe brauchte. Im Alleingang hatte sie zu viele Fehler gemacht. Sie dachte an Sam und an seine verschlafene Miene, als sie an seine Tür geklopft hatte, und an das Verlangen in seinem Blick, als sie seine Wange gestreichelt hatte. Sie erinnerte sich auch daran, wie spontan er auf den Dichter Jawad zugehen wollte, an diesem ersten Abend bei den Darwishs, als Lina noch versuchte, sich zu verstecken.
Der Steward sagte, sie könnten von der Maschine aus an jeden Punkt der Welt ein Telegramm schicken. Lina schrieb die Nachricht auf und gab sie ihm. Es war nur ein Satz, der umgehend zu einer Adresse in der North Audley Street in London zugestellt werden sollte. Er lautete: «Komm morgen nach Genf, zwölf Uhr mittags, in den Park, der ‹Die Perle des Sees› heißt.» Die Nachricht war mit «Anouk Aimée» unterschrieben.
Der Steward machte große Augen, als er die Unterschrift sah. «Sind Sie Anouk Aimée?», fragte er.
«Ja», sagte sie. Es spielte keine Rolle. Sie existierte nicht.
35
Lina saß im ersten Stock eines Cafés an der Rue de Lausanne, in der Nähe des Seeparks, den die Schweizer «La Perle du Lac» nennen. Es war elf Uhr fünfundvierzig. Der Rücken tat ihr weh, die Rippen taten ihr weh, die Beine taten ihr weh. Sie bestellte noch einen Kaffee, in der Hoffnung, er würde die Schmerzen betäuben. Seit ihrer Rückkehr nach Genf hatte sie ihre Zeit hauptsächlich damit verbracht, den Schmeicheleien ihrer neuen Wohltäter, der Saudis, zu entgehen. Sie hatten ihr die Wiedereinreise in die Schweiz mit einem saudischen Reisedokument erleichtert, das sie als Ehefrau von Prinz Jalal bin Abdel-Rahman auswies. Am Flughafen war sie vom saudischen Generalkonsul in Empfang genommen worden, der darauf bestanden hatte, sie in seiner Limousine mitzunehmen. Er rückte keinerlei Informationen heraus, und sie fragte auch nicht nach.
«Ich wohne im Beau Rivage», hatte sie gesagt und an dieses wunderbare Badezimmer gedacht. Und sie hatte eingecheckt, ein himmlisches Bad genommen und lange geschlafen. Aber als die Nacht hereinbrach, war sie aus dem Hotel geschlüpft und in der Stadt untergetaucht. Als sie nach mehreren Stunden ziellosen Umherwanderns sicher war, dass ihr niemand folgte, war sie zu der Pension in der Nähe des Güterbahnhofs zurückgekehrt, die, soviel sie wusste, unentdeckt geblieben war. Und nachdem sie sich ausgiebig bei Madame Jaccard für ihre Abwesenheit entschuldigt und ihr die Miete für eine Woche im Voraus bezahlt hatte, wurde ihr vergeben. Sie sank in einen tiefen Schlaf, als wäre sie in einen Eisblock eingehüllt. Am nächsten Morgen hatte das Eis begonnen zu schmelzen.
Ein paar Minuten vor zwölf fuhr ein Flughafen-Taxi in der Rue de Lausanne vor. Ein Mann mit Sonnenbrille bezahlte und ging auf den Eingang des Parks zu. Er trug einen blauen Blazer und graue Flanellhosen. Über seiner Schulter hing eine Lederreisetasche. Lina stellte erleichtert fest, dass er keine Krawatte trug. Sie wollte, dass er genau so war, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er blieb am Rand des Parks stehen, suchte die Gärten nach ihr ab.
Helou!
, dachte sie. Er sah gut aus.
Der Park war üppig und grün, ein Smaragd vor dem Diamanten des Sees. Sie beobachtete, wie Sam Hoffman durch das Tor ging und sie suchte. Es war jetzt Mittag, Zeit, sich zu treffen. Aber Lina hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Von ihrem Aussichtsposten auf der anderen Straßenseite konnte sie die Anlage des Parks und die Zufahrtswege überblicken. Sie wollte sich vergewissern, dass die Luft rein war, bevor sie sich hinauswagte. Als Hoffman die Grünfläche betrat, bemerkte Lina einen kahlköpfigen Mann, der kurz zu ihm aufblickte und dann wieder in seine Zeitung sah. Er war dunkelhäutig, die Farbe von Linas Café Crème, aber wie ein Genfer Kleinbürger gekleidet, mit Tweedjacke und Schal. War da ein Erkennungsflackern in seinem Blick? Das ließ sich auf die Entfernung nicht mit Sicherheit sagen. Hoffman merkte nichts. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe und suchte den Park nach ihr ab.
Das Frühlingswetter war fast warm, und der Park hatte sich allmählich mit Kindern und ihren Eltern gefüllt. Ein Mann mit einem Handkarren verkaufte Eis. Ein Pantomime mit weißgeschminktem Gesicht schritt wie ein steifgliedriger Soldat vor einer Gruppe staunender Kinder einher und ging dann mit seinem Hut bei den Eltern vorbei. Lina beobachtete, wie Hoffman den Park absuchte. Nach fünf
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