Blutgeld
war. Hoffman war es gewesen, der sie in dieses katastrophale Abenteuer gestoßen hatte und dann versuchte, sie wegzuziehen. Sie machte ihm keinen Vorwurf. Er hatte beide Male recht gehabt: Sie hätte mehr tun sollen, um Nassir Hammud zu bremsen, und sie hätte weniger tun sollen. Sie dachte auch an Hammud: der Abschaum der Menschheit. Wenn irgendjemand auf dem Planeten die Schrecken des Quasr al-Nihayya verdiente, dann er. Dann dachte sie an ihre Tante Soha, die man drei Jahre zuvor gezwungen hatte, Lina den Brief zu schreiben, um sie in Hammuds Dienst zu pressen. Am Schluss war sie wahrscheinlich in genau diesem Gefängnis gewesen, vielleicht in derselben Zelle. Das Bild ihrer Tante innerhalb dieser Mauern wurde zu dem der weißhaarigen Frau, die auf Lina in der Stunde ihrer größten Einsamkeit zugegangen war. Diese Frau war gestorben, während Lina versuchte, ihre Stimme wiederzufinden, um «Aufhören» zu schreien. Und sie dachte an ihre Freundin Randa, die sie ungerechterweise beschuldigt hatte, ohne über die Konsequenzen nachzudenken und daran, was für einen grauenhaften Preis sie hatte zahlen müssen.
Zu viele Menschen waren auf Linas Weg gestorben, bis sie endlich ihren Mut gefunden hatte. Was hatte Jawad, der irakische Dichter, gesagt? Es seien die Frauen, die den Irak retten würden, weil die Männer alle korrumpiert seien. Er hatte sich geirrt, zumindest was Lina betraf, die in ihrer Feigheit zugelassen hatte, dass andere in den Tod gingen. Sie verfluchte ihre Schwäche und ihr Schweigen. Sie dachte an den blinden Dichter und erkannte, dass er an einem Ort wie diesem sein Augenlicht verloren haben musste. Wie hatte er nur den Mut gefunden, diesen Vorfall mit seinem Folterer und den Zigaretten zu überleben und weiterzumachen? Dem Regime in Bagdad weiter zu trotzen, weitere Folter zu provozieren? Sie sah in Gedanken seine leeren Augenhöhlen, verbrannt und entstellt, und machte sie zu einer Art geistiger Ikone. Sie würden ihr muslimisches Kruzifix sein, ein vollkommenes Opfer von Blut, das geflossen war, um andere, die weniger mutig waren, zu retten. Während ihre Gedanken sich darauf konzentrierten, gab Lina ein Versprechen ab – die Art von Handel mit Gott, den ein Mensch macht, der dem Tod nahe ist. Falls sie irgendwie die Tortur des Palasts des Endes überleben sollte, würde sie alles tun, um Nabil Jawad, ihrem Tröster, zu helfen.
Kamal, der Inquisitor, weckte sie kurz nach Morgengrauen. Er trug eine schwarze Kapuze in der Hand. Er schien fast zu bedauern, dass er sie stören musste. Er weiß, dass ich heute sterben werde, dachte Lina. Er sah anders aus als vorher. Beunruhigt, unsicher. Vielleicht schämte er sich für das, was er würde tun müssen. Vielleicht hatte er Angst, dass er keinen Steifen kriegen würde, um sie zu vergewaltigen.
«Ana aasif»
, sagte er. Es tut
mir leid
.
«Sagen Sie es nicht», erwiderte Lina. «Sagen Sie nichts.» Sie wollte es nicht hören. An diesem Morgen konnte sie die Vorstellung von einem Folterer mit Schuldgefühlen nicht ertragen.
«Es tut mir leid», sagte er wieder. «Ich habe es nicht gewusst.»
Er zog ihr die schwarze Kapuze über den Kopf und führte sie zur Tür hinaus. Er riss sie nicht grob mit sich, so wie er es am Tag zuvor getan hatte, sondern führte sie an der Hand. Sie kamen zum Ende eines Ganges und betraten einen weiteren durch eine Metalltür und bogen dann nach rechts. Sie hörte Kamal «Vorsichtig» sagen, als er ihre Hand auf ein Geländer legte, und plötzlich gingen sie eine Treppe hinunter, dann noch eine und noch eine. Als sie unten angekommen waren, blieben sie stehen. Sie hörte, wie Kamal mit einem anderen Mann sprach.
«Miftaah?»
, sagte Kamal. Er verlangte nach dem Schlüssel.
«Aywah!»
, sagte der andere Mann.
«Ja.»
«Warten sie?»
«Aywah!»
, sagte er wieder.
«Al-Safir Al-Saudi.»
Der saudische Botschafter. Was sollte das bedeuten? Die Saudis wollten sie also auch tot sehen? Vielleicht waren sie gekommen, um zuzusehen. Es wurde mit irgendwas herumgemacht und leise gesprochen, sodass Lina nichts verstand. Als Nächstes hörte sie, wie eine schwere Tür geöffnet wurde, und dann spürte sie Sonnenlicht, selbst durch den dicken Stoff der Kapuze hindurch. Sie wurde ein paar Schritte weitergezogen, und dann ging eine weitere Tür auf, und sie spürte auf den Armen einen Lufthauch. Ihr Herz stockte kurz – sie war draußen! –, aber sie erstickte den Gedanken gleich wieder. Es wurde nur wieder mit ihr gespielt,
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