Blutheide
sie sofort an den kleinen, durchnässten Zettel gedacht, den sie bei der Leiche gefunden hatte. Durch den plötzlichen Aufbruch mit Benjamin und die Dinge, die sie im Lebrello von ihm über seinen Zwillingsbruder erfahren hatte, war der Zettel komplett aus ihren Gedanken gerutscht. Und als ihr beim Aufwachen wieder einfiel, dass sie das mögliche Beweisstück zum Trocknen auf die Fensterbank gelegt hatte, bekam sie einen Riesenschreck. Was, wenn die Putzfrau den Zettel für Müll hielt und ihn einfach wegschmiss? Sie kannte die Abläufe auf dem Präsidium noch nicht und konnte nicht einschätzen, wann dort die Reinigungskräfte Dienst hatten und wie mit derartigen Dingen umgegangen wurde. Wenn ihr jetzt aus reiner Unachtsamkeit ein wichtiges Beweismittel abhanden gekommen war, konnte sie gleich ihre Sachen packen. Also war sie nur schnell unter die Dusche gesprungen, hatte sich aus den noch nicht ausgepackten Kartons eine Jeans und ein halbwegs glattes T-Shirt geschnappt und war im Laufschritt ins Präsidium gehetzt. Als sie jetzt ihr Büro betrat, ging sie geradewegs auf die Fensterbank zu, ohne erst das Licht einzuschalten. Für ihren Zweck war es hell genug. Die ersten Lichtstrahlen fielen schon durch das Fenster und versprachen einen sonnigen Tag. Doch das nahm Katharina gar nicht wahr – die Fensterbank war leer.
Der jungen Kommissarin klopfte das Herz bis zum Hals – das war das Ende. So etwas durfte einfach nicht passieren, sie war schließlich keine Anfängerin mehr! Eine Chance gab es noch. Sie kniete sich auf den Boden und hoffte, dass der kleine, unscheinbare Zettel von der Fensterbank gefallen war und irgendwo dort unten lag. Sie tastete im Schummerlicht herum, als plötzlich die Deckenbeleuchtung anging und jemand hinter ihr fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Katharina schreckte hoch und knallte mit dem Kopf gegen den Thermostat der Heizung. »Scheiße, das auch noch!«
Sie hob den schmerzenden Kopf und sah Benjamin in der Tür stehen, der sich ein leichtes Grinsen nur schwer verkneifen konnte.
»Mal abgesehen davon, dass es gerade mal halb sechs ist – was machst du da unten? Suchst du vielleicht das hier?«
In seiner Hand hielt Benjamin ein kleines silbernes Tablett, auf dem Katharina den noch immer zusammengefalteten Zettel erkannte. Katharina schwankte zwischen Scham und Erleichterung. Ein bisschen Ärger kam auch noch dazu, da ihr Chef sich offensichtlich über sie lustig machte. Das Schlimmste aber war: Sie konnte ihm das nicht mal verdenken. Musste ja auch superdämlich aussehen, wie sie hier im Dunkeln unter dem Fenster auf dem Boden herumkroch.
»Gott sei Dank, ich dachte schon, der Zettel ist weg! Als ich heute Morgen aufgewacht bin, ist mir eingefallen, dass ich vergessen hatte, ihn von der Fensterbank zu nehmen und …«
»Du hast Glück gehabt«, fiel Benjamin ihr ins Wort. »Unser Reinigungspersonal hat strikte Anweisungen, nichts wegzuschmeißen, was nicht im Mülleimer liegt, oder zumindest nachzufragen, wenn jemand hier ist. Und ich war schon hier, da hat mich die Putzfrau auf den Zettel aufmerksam gemacht.«
»Dann bin ich also nicht die einzige Frühaufsteherin in diesem Kommissariat«, versuchte Katharina die Situation etwas zu entspannen. »Kann ich den Zettel haben? Ich möchte sehen, ob darauf etwas Brauchbares zu lesen ist.«
»Das hatte ich auch gerade vor, aber da du ihn entdeckt hast … hier, dein Job!« Der Hauptkommisar reichte Katharina, die sich inzwischen aufgerappelt hatte, das kleine Tablett mit dem Zettel.
»Wenn du mich brauchst, ich bin in meinem Büro.« Mit diesen Worten drehte Benjamin sich um und verschwand ins Nebenzimmer. Katharina hängte indessen ihre Lederjacke über den Stuhl, setzte sich an ihren Schreibtisch und betrachtete das kleine Stück Papier. Vorsichtig, mit spitzen, behandschuhten Fingern, faltete sie es auseinander. Es ging besser als sie dachte. Bereits kurze Zeit später hielt sie den komplett auseinandergefalteten, unlinierten Notizzettel, der an der oberen Kante aussah, als sei er von einem kleinen Block abgerissen, in der Hand und versuchte, die Worte darauf zu entziffern. Die Schrift war sehr ausgewaschen, an einigen Stellen war gar nichts mehr zu sehen, aber dazwischen gab es überall Wortfragmente. Sie würde versuchen müssen, wie bei einem Rätsel den Lückentext zu füllen. Das könnte dauern, aber möglicherweise war es eine erste entscheidende Spur.
06.47 Uhr
Die Vorbereitungen waren ihm extrem wichtig.
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