Blutheide
erzählt, dass sie dich und deinen Bruder das erste Mal zusammen gesehen hat. Auf jeden Fall hat Bene, also dein Bruder, sie früher in den Feierabend geschickt, weil in der Bar wohl nicht so viel los war. Und da hat sie mich angerufen, und ich bin zu ihr gefahren. Wir waren … na, du verstehst schon, die ganze Zeit bei ihr auf dem Zimmer. Wie gesagt, es ist noch …«
»… ganz frisch, ich hab’s verstanden, Tobi«, erwiderte Ben, um ein ernstes Gesicht bemüht.
»Die Zimmer der Angestellten, die im Hotel wohnen, liegen in einem separaten Flügel des Hauses, aber das weißt du ja jetzt bestimmt auch schon. Von den Zimmern der Hotelgäste oder dem eigentlichen Hotelbetrieb bekommt man dort so gut wie nichts mit.« Tobi sah stirnrunzelnd zu Ben: »Aber was ich nicht ganz verstehe – als ich in der Nacht gegangen bin, hab ich dort weder dich noch die Kollegen von der Spusi oder so gesehen. So was wäre mir doch aufgefallen!«
Jetzt war es an Ben, die Situation als etwas unangenehm zu empfinden. »Nun ja, ich habe einen anonymen Anruf bekommen. Jemand hat mir die Zimmernummer genannt und gesagt, dass dort eine Leiche liegen würde. Und da ich ganz in der Nähe war, habe ich erstmal allein nachgeschaut. Als ich dann draußen auf die Kollegen gewartet habe, bist du ein paar Meter entfernt an mir vorbeigelaufen.«
Tobi schien diese Erklärung ebenso wenig zu irritieren wie die Kollegen in der Nacht, und Ben atmete innerlich auf.
»Aber dein Bruder … hat der denn nichts mitbekommen?« Tobi war nun wieder ganz bei der Sache.
»Nein, ich hab ihn natürlich gestern Nacht auch befragt«, erwiderte Ben vielleicht etwas zu schnell. »Er konnte mir zwar bestätigen, dass die Frau Gast im Hotel gewesen war, weil er sie dort gesehen hatte, aber in der Bar bei ihm war sie gestern Abend nicht.«
Die Sache mit der Zimmerservice-Bestellung verschwieg der Kommissar. Es ging ihm schlecht damit, aber sie mussten jetzt beide – Bene und er – bei der Version mit dem anonymen Anruf bleiben. Alles andere würde ihnen beiden schaden, denn wie sie es auch drehen würden: Die Aktion war nun einmal nicht ganz sauber abgelaufen. Und mit menschlichem Verständnis seitens der höheren Stellen brauchten sie da nicht zu rechnen. Doch Ben schwor sich, dass er sich nie wieder in eine solche Situation bringen oder vielmehr bringen lassen würde. Die Lügen, Überraschungen und Verwirrungen der letzten Tage hatten ihn gefühlte zehn Jahre seines Lebens gekostet, und der anhaltende Schlafmangel tat sein Übriges dazu, dass er optisch locker noch mal fünf Jahre drauflegen konnte. Sein Aussehen störte ihn dabei zwar weniger, so eitel war er nicht, aber er merkte, dass seine Konzentration nachließ, und das konnte und wollte er in seinem Job und speziell in diesem Fall nicht zulassen.
09.37 Uhr
Bene öffnete die Augen. Er fühlte sich zerschlagen und elend. So, als hätte er die Nacht durchgezecht wie in alten Zeiten. Er rieb sich die Schläfen, und schlagartig fiel ihm ein, was in der vergangenen Nacht passiert war. Bis eben hatte er noch an einen schlechten Traum glauben wollen, doch jetzt hatte die Realität ihn wieder eingeholt. Die Zimmerbestellung – die tote alte Frau – Ben … Beim Gedanken an seinen Zwillingsbruder fühlte er sich noch elender. Schon wieder hatte Ben ihm helfen müssen, und schon wieder hatte er es tatsächlich getan. Und auch wenn Bene wusste, dass ihn selbst diesmal wirklich keine Schuld traf und er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, konnte er seine Schuldgefühle nicht verdrängen. Schuldgefühle … verdammt! Bene griff zu seinem Handy, das neben dem Bett lag, schaltete das Display aktiv und sah auf die angezeigte Uhrzeit: 09.39 Uhr – shit! Um zehn Uhr sollte er sich mit Julie am Brunnen vor dem Rathaus treffen! Im Leben würde er das nicht mehr pünktlich schaffen, selbst wenn er sich noch so sehr beeilte. Toll, Bene, schalt er sich selbst, während er mit der Zahnbürste in der Hand unter die Dusche eilte und versuchte, mit kaltem Wasser seine Lebensgeister etwas in Schwung zu bringen. Drei Minuten später griff er nach dem Duschhandtuch am Haken, wickelte es sich um die Hüften und spülte sich den Mund über dem Waschbecken aus. Beim Blick in den Spiegel stellte er fest, dass er zwar mächtig kaputt, aber ansonsten ganz manierlich aussah. Fand er zumindest, auch ohne Klamotten. Als er acht Minuten später in Jeans und einem legeren dunkelblauen Hemd erneut sein Spiegelbild
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