Blutheide
betrachtete, bestätigte er den ersten Eindruck, indem er laut zu sich selber sprach: »Bene, du bist ein cooler Typ!« Mit Arroganz hatte das in seinen Augen nichts zu tun, sondern mit Selbstbewusstsein und Eigenmotivation. Bene hatte das seit einigen Jahren schon zu einem morgendlichen Ritual gemacht. Ausgenommen nur die Tage, an denen eine Frau neben ihm aufwachte – doch das war ja eher selten der Fall, weil er sie meistens wieder wegschickte, bevor der Morgen mit einem gemeinsamen Frühstück drohte. Und gerade, weil ihm heute alles andere als zum Lachen war, tat es heute besonders gut und musste sein.
Um zwei Minuten vor zehn schloss er die Haustür hinter sich und lief los. Die Sonne hatte schon etliche Lüneburger auf die Straßen gelockt, und die meisten Geschäfte in der Fußgängerzone öffneten jetzt ihre Türen. Als er in der Straße Am Sande angelangt war, verlangsamte er sein Tempo von Dauerlauf zu einem zügigen Schritt. Unpünktlich war er ohnehin schon, er wollte nicht obendrein verschwitzt und abgehetzt auf Julie treffen. Auch wollte er das Klopfen seines Herzens wieder in seinen normalen Rhythmus bringen, wobei er rasch feststellte, dass es nicht nur vom Laufen aufgeregt wummerte. Ach, Julie … Er erwartete ganz sicher nicht, dass sie ihm freudestrahlend um den Hals fallen würde. Vermutlich würde sie ihm sehr klar und deutlich die Meinung sagen, ihm das eine oder andere an den Kopf werfen und sich dann wieder verabschieden. Zumindest würde das zu der Julie passen, die er in Erinnerung hatte. Verübeln konnte er ihr das nicht, und es war ihm allemal lieber, jetzt so geballt ihre Wut einmal abzubekommen, anstatt ihr irgendwann zufällig auf der Straße zu begegnen. Auf jeden Fall wollte er ihr zumindest optisch das Gefühl geben, dass er in den letzten acht Jahren etwas seriöser geworden war. Und je näher er dem Rathausmarkt kam, desto mehr bemerkte er, dass er sich auf das Wiedersehen mit Julie wirklich freute. Wer weiß – vielleicht konnten sie es ja tatsächlich schaffen, langfristig so etwas wie Freunde zu werden. Auch wenn da nichts mehr war, was sie verband, und sich Julies Wut auf ihn nicht schlagartig in Luft auflösen würde – wenn überhaupt jemand zu einem solchen Schritt in der Lage war, dann Julie. Einfach abhaken, was damals war, und noch mal von vorn anfangen. Auf freundschaftlicher Ebene.
Bene war neugierig, ob seine ehemalige Lebensgefährtin sich verändert hatte. Lebensgefährtin – er hatte dieses Wort immer gehasst. Außer Julie hatte es auch nie eine Frau gegeben, die diesen Status nur ansatzweise erreicht hätte. Das waren eher Nacht- oder im Höchstfall mal Wochengefährtinnen gewesen. Obwohl jetzt … jetzt gab es da Katharina. Schnell verdrängte Bene seine aufkeimenden Gedanken an die Frau mit den roten Locken. Auch diese Beziehung war schon mit Problemen behaftet, bevor sie überhaupt richtig anfing.
Bene hatte den Rathausplatz inzwischen fast erreicht. Das Ziffernblatt am Stadtgebäude zeigte 10.09 Uhr. Sein Blick wanderte von der großen Uhr hinunter zum Brunnen, der die Mitte des Rathausplatzes schmückte. Außer zwei kleinen Jungs, die um den Brunnen herum Fangen spielten, konnte Bene niemanden sehen. Keine Julie. Er ließ seinen Blick schweifen und sah einige Meter weiter, bereits auf dem Weg in die Kuhstraße, eine junge Frau, die sich suchend umsah. Julie!
10.13 Uhr
Katharina setzte sich mit einer frischen Tasse Kaffee an ihren Schreibtisch im Büro. Sie musste sich erst einmal sammeln. Die Ausdrucke aus dem Archiv lagen in einem unauffälligen Umschlag zusammen mit ihren Profiling-Unterlagen vor ihr.
Sie war pünktlich um acht zur anberaumten Besprechung im Kommissariat gewesen. Dort hatte sie, bevor sie ein Wort sagen konnte, von dem Mord an Paulina Petersen erfahren. So hatte Katharina anfänglich keine Gelegenheit gefunden, zu erzählen, dass sie bereits in aller Herrgottsfrühe einige Zeit im Archiv der Lokalzeitung verbracht hatte. Eigentlich war ihr das irgendwie ganz recht, stellte Katharina mit aufkeimendem Entsetzen fest, das sie jedoch vor Tobi und Benjamin Rehder gut verbarg. Es war, als verböte ihr Unterbewusstsein ihr regelrecht, Ben zu fragen, ob er seiner Vermutung zu den Parallelfällen bereits nachgegangen war. Zweimal versuchte sie während der Besprechung sich zu überwinden und Ben doch darauf anzusprechen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Als dann auch noch Kripochef Mausner gemeinsam mit dem Staatsanwalt Bent-Ove
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