Blutheide
verspürte gerade deswegen eine gewisse Befriedigung. Warum sollte es nicht auch anderen so gehen wie ihm? Er kannte das Gefühl, im Dunkeln eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, wann man wieder hinausgelassen würde. Zigmal hatte er es erleben müssen. Erst mit etwa 13 Jahren war er kräftig genug gewesen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Aber dann auch mit Erfolg: Seine Mutter hatte es danach nie wieder probiert.
Darüber hinaus musste es so sein. Der Fall, den er hier nachinszenierte, war auch so abgelaufen: Tagelang war eine damals Achtjährige in einem dunklen Kellerraum eingesperrt gewesen, bis sie schließlich verdurstet war. Auch dieses Mädchen hier würde verdursten. Heute hatte er ihr weder Nahrung noch etwas zu trinken mitgebracht. Gestern war eine Ausnahme gewesen. Einfach so, aus einer Laune heraus. Er überlegte kurz, hinunter in das Kellerloch zu springen, ließ es dann aber bleiben. Stattdessen rief er leise ihren Namen: »Leonie?«
Er sah, wie das Mädchen langsam den Kopf hob. Dann sagte es mit verängstigter Stimme: »Ich bin nicht Leonie«, und begann leise zu wimmern.
Das Wimmern und seine wiederholte Lüge nervten ihn maßlos. Schon gestern hatte es immer wieder gesagt, es würde Laura heißen, wenn er es mit Leonie angesprochen hatte. Und schon gestern hatte er ihr erklärt, dass man nicht lügen dürfe. Und überhaupt, was dachte sich dieses Kind eigentlich? Meinte es etwa, es sei klüger als er und könnte ihn so dummdreist hinters Licht führen? Es war wirklich nicht besser als die Erwachsenen, mit denen es aufwuchs – dieses ganze Möchtegern-Intellektuellen- und Polizistengesocks, das er nur allzu gut kannte, weil er in ihrer Mitte agierte. Dennoch hatte er – und das ärgerte ihn eigentlich am meisten – tatsächlich einen Moment lang gezweifelt. An sich selbst und an seinem durchdachten Plan! Doch später dann, zuhause, hatte er noch einmal seine Fotos angeschaut, und da war es eindeutig: Kein anderes Mädchen als Leonie, die Tochter vom nichtsnutzigen Bruder dieses lausigen Kommissars, saß wie ein verschrecktes Häschen in seiner todbringenden Laubengrube. Genauso, wie er es geplant hatte.
Mit den Worten »Wer lügt, hat es nicht besser verdient« hob er jetzt die Falltür an und ließ sie wieder über dem Kellerloch zuschlagen. Einen Augenblick verharrte er nachdenklich, dann schaute er auf seine Uhr und erschrak. Er musste sich beeilen, wenn er einigermaßen pünktlich zur Arbeit erscheinen wollte. Noch brauchte er seine Arbeit, um nicht aufzufallen, doch schon bald würde sich das ändern …
07.43 Uhr
Ben öffnete die Tür zu seinem Büro, das ihn an einem sonnigen Tag wie diesem mit einem hellen, strahlenden Ambiente begrüßte, da sich das Morgenlicht darin fing. Normalerweise war das für Ben wie ein warmer Regen. Er liebte diese Tage, und für ihn war das stets der perfekte Beginn eines Tages, von dem man ansonsten noch nicht wusste, was er bringen würde. Heute hatte er dafür jedoch keinen Sinn. Die zwei Stunden Schlaf, die er nach dem unerwarteten Zwischenspiel im Hotel noch hatte nutzen können, waren bei Weitem nicht ausreichend gewesen, und auch die eiskalte Dusche danach hatte höchstens ein paar optische Nachwirkungen abschwächen können. Aber es nützte nichts: Er selbst hatte bestimmt, dass sie alle heute Morgen früh starten würden, um dem Mistkerl auf die Schliche zu kommen, der scheinbar wahllos Menschen in seiner Umgebung tötete.
Zwei Minuten nach ihm kam Tobi ins Büro geschlendert. Auch er sah müde aus, und Ben war klar, warum. Schließlich hatte er ihn in der Nacht in der Nähe des Hotels gesehen. Der junge Kollege konnte also nur unwesentlich mehr Schlaf bekommen haben als er selbst. Hoffentlich hat Katharina dafür aufgetankt, dachte Ben bei sich, damit wenigstens einer von ihnen einen klaren Kopf hatte. Wie sollte er jetzt aber die Situation mit Tobi lösen? Wieso war sein Assistent so spät noch aus dem Heideglanz gekommen, wo gerade ein Mord passiert war? Was hatte er dort gemacht? Ben war überhaupt nicht wohl in seiner Haut, aber es musste sein: Kurz entschlossen ging er ins Nebenbüro, in dem Tobi gerade seine Jacke über den Stuhl hängte. Er würde es direkt ansprechen, solange Katharina noch nicht da war. Dann würde Tobi sich nicht vorgeführt fühlen, aber trotzdem wäre die Sache ausgesprochen und würde hoffentlich alle dummen Gedanken zu diesem Thema vertreiben. Zumindest hoffte Ben das.
»Guten Morgen, Tobi!«, sagte er daher,
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