Bluthochzeit in Prag
aus der Luft versorgen werde.
An diesem Abend nahm auch Pilny seine Sendung wieder auf. Atemlos lauschten überall die Menschen auf die Stimme aus dem Lautsprecher ihres Radios. Auch in Horni Vltavice.
»Er lebt noch«, sagte der Parteisekretär. Fast weinte er dabei. »Er sendet wieder. Genosse … heute nacht werden wir Unvergeßliches erleben.«
Er ahnte nicht, wie prophetisch diese Worte waren.
*
In der Nacht – Pilny blickte auf seine Uhr, es war kurz nach zwölf – erwachte Lucek plötzlich aus einer tiefen Bewußtlosigkeit. Er hob den Kopf und rief den Namen Pilnys. Seine Stimme war brüchig, aber kräftig genug, um Pilny zu erreichen, der vor der Höhle saß und die Nachtsendungen der Deutschen Welle aufs Tonband nahm.
Pilny ließ das Band laufen und rannte sofort in die Höhle.
»Micha!« rief er und kniete neben Lucek auf den Steinboden. »Mensch, alter Junge, du bist wieder da! Kerl, was machst du einem doch Sorgen! Wie fühlst du dich?«
»Wie in einem Backofen, Karel. Durst –«
Pilny gab ihm vorsichtig aus der Flasche zu trinken. Es war reines, kaltes Quellwasser, das er vorhin geholt hatte. Lucek schluckte mit keuchendem Atem, das Wasser lief ihm aus den Mundwinkeln über Hals und Brust, und man konnte sehen, wie wohl ihm das tat, wie er sich in der Kühle badete, wie seine Augen einen anderen Glanz bekamen und dankbar zu Pilny aufschauten.
»Das ist gut … das ist gut …« sagte er, als Pilny ihm die Flasche wegnahm. »Das beste, was Gott erschaffen hat, ist Wasser …« Er ruhte sich nach diesem langen Satz minutenlang aus, starrte an die gezackte Höhlendecke und erholte sich erstaunlich schnell. Dann wandte er den Kopf zu dem neben ihm sitzenden Freund. »Wo ist Irena?«
»Fort. Sie holt Hilfe.«
»Du glaubst, daß sie durchkommt?«
»Sicherlich.«
»Wie lange ist sie schon weg –«
Pilny zögerte. Dann sagte er ehrlich: »Zwei Tage –«
»Karel –« Lucek tastete nach Pilnys Hand. Als er sie gefaßt hatte, hielt er sie mit seinen fieberheißen Fingern fest. »Ich sehe dir an, daß du keine Hoffnung mehr hast. Du hast andere Augen bekommen, Junge.« Er atmete schwer und brauchte wieder Minuten, um Kraft zu sammeln. »Es ist alles Scheiße, was, Junge?« sagte er plötzlich ganz klar.
Pilny nickte. »Ja. Aber der Sender arbeitet noch. Ich sende gleich weiter –«
»Doch unser Leben ist am Ende. Hättest du geglaubt, daß wir einmal so krepieren würden?«
»Noch leben wir! Und wir kommen hier auch wieder heraus. Weißt du, daß um uns herum Russen liegen? Wir stecken mitten unter ihnen.«
»Und wie eine Laus werden sie uns zerquetschen, Karel.« Lucek legte die Hände auf seine Brust. Die Fingerkuppen tasteten nach den beiden freiliegenden Einschußlöchern. Pilny hatte den Verband abgenommen, die Wunden ausgewaschen und Puder darübergestreut. Luceks Finger zuckten wieder zurück.
»Eiter?« fragte er. »Der … der verdammte Erguß …?«
»Ja. Die Kugel steckt noch drin. Vor der Rippe. Irena ist losgelaufen, um einen Arzt zu holen.« Pilny sah hinaus in die Nacht. Er wußte, daß er sich selbst belog, aber Selbstbetrug war jetzt das einzige, was ihn nicht der Verzweiflung auslieferte. »Ich hoffe noch immer, daß sie es geschafft hat.«
Lucek drehte den Kopf langsam zur Seite. Da lag der Rucksack mit den Medikamenten, die ihnen Dr. Matuc überlassen hatte. »Was hat er uns alles mitgegeben?« fragte er.
»Das weißt du doch. Verbandsmaterial. Chloräthyl …«
»Auch Instrumente?«
»Eine Pinzette, ein paar Kanülen und Einwegspritzen …«
»Nimm eine Kanüle, Karel, und taste nach der Kugel.«
»Verrückt –«
»Bitte –«
Pilny nahm aus der verchromten Schachtel eine der längsten Spritzennadeln und beugte sich über den Einschuß, in dessen Tiefe noch das Projektil saß. Lucek beobachtete ihn und biß die Zähne aufeinander.
»Geh hinein in die Wunde –«
»Verdammt, ich bin Reporter, aber kein Arzt! Wozu soll das gut sein?«
»Ich will wissen, wie tief sie sitzt. Geh hinein, bis du sie fühlst.«
In Pilnys Hals saß plötzlich ein dicker Kloß, der sich nicht herunterwürgen ließ. Er schnürte Stimme und Luft ab. Vorsichtig stieß er die Nadel in die eiternde Wunde, drückte sie tiefer, sah, wie Lucek das Gesicht verzerrte und hörte sofort auf.
»Weiter –« keuchte Lucek. »Weiter – Sieh mich nicht dabei an …«
»Da!« Pilnys Hand hielt still. Deutlich spürte er Widerstand.
»Leg das Ohr auf die Brust und tippe ein paarmal. Klingt es
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