Bluthochzeit in Prag
Fahrer kicherte, während sich Irena umdrehte.
»Nein, Muratow«, sagte sie mit fester Stimme. »Hier geht es in die Wildnis. Nach wenigen hundert Metern hört der Weg auf.«
»Und dann?« fragte Muratow. Eine böse Ahnung ergriff ihn plötzlich und ließ ihn wie in einem Kältehauch erstarren.
»Dann unterhalten wir uns, Leutnant.« Der Mann neben ihm hob die Pistole. »Sie werden uns einiges erzählen müssen.«
Muratow lehnte sich zurück. Er starrte gegen die Wagendecke und kam sich auf einmal elend vor. Nicht daß er Angst hatte, o nein, aber eine große Enttäuschung preßte sein Herz zusammen. Warum haben sie mich belogen, dachte er. Warum lügt auch Irena? Alle lügen … die politischen Offiziere, die Kommandeure, die Parteifunktionäre, die Großen im Kreml … und nun auch Irena. Überall nur Lüge! Gibt es denn keinen Platz auf dieser Welt, wo man ehrlich miteinander reden kann?
Der Wagen bremste mit einem Ruck. Der Weg war jetzt so schmal geworden, daß kein Auto ihn mehr befahren konnte. Er wurde zu einer Rinne im dichten, verfilzten Wald. Muratow suchte mit zitternden Fingern in seiner Jacke nach einer Zigarette … als er die Packung herausholte, schleuderte ein Faustschlag sie auf den Wagenboden.
»Warum tun Sie das, Genosse?« fragte Muratow mit zugeschnürter Kehle.
»Aussteigen!« Der Mann neben ihm winkte mit der Pistole. Von außen riß Irena die Tür auf. »Los, steigen Sie aus.«
Muratow verließ den Wagen. Er wurde nun Zeuge eines Vorganges, dessen Sinn und Zweck er noch nicht verstand. Auch den prallgefüllten Rucksack, den die Männer aus dem Kofferraum holten, sah er mit Ratlosigkeit an. Der Rucksack war schwer und enthielt nichts anderes als neue Batterien für Pilnys Freiheitssender. Nun stand er auf dem Waldboden, und Irena wollte ihn zu Pilny schleppen.
Muratow ging ein paar Schritte vom Wagen weg –, die Pistole zwischen seinen Schulterblättern zwang ihn dazu. Er blickte sich ein paarmal nach Irena um und sah, wie sie den Rucksack aufhob und sein Gewicht prüfte.
»Halt!« sagte der Tscheche hinter ihm. »Drehen Sie sich nicht mehr um. Sie wissen jetzt, was hier los ist, nicht wahr?«
»Nein. Wir stehen in einem Wald, und ich weiß nur, daß man mich belogen hat. Sie wollen nicht nach Karlsbad fahren.«
»Allerdings nicht. Hier ist die Fahrt zu Ende, Leutnant.«
»Das hat doch keinen Sinn.« Muratow dachte angestrengt darüber nach, was das alles bedeuten sollte. Um diesen Urwald herum lagen sowjetische Truppen. Wenn er an die Gebietskarte dachte, die er bei einer Offiziersbesprechung bei Major Peljanow gesehen hatte, mußte hier ganz in der Nähe eine Panzereinheit ihr Lager aufgebaut haben. Einem großen Ring gleich umzogen die Zeltstädte das Urwalddickicht … in die Schluchten einzudringen, hatte man bald als sinnlos aufgegeben. Dort war kein guter Platz, und was sollte man auch in einer Wildnis, in der sich die Ameisen über die Menschen wunderten? Man kannte das alles aus der sibirischen Hochebene und den zerklüfteten, vom Teufel selbst verfluchten Schluchten des Urals. Was also suchten Irena und die finster blickenden Tschechen in dieser modrigen Einsamkeit? War es ein Sabotagetrupp? Lag in dem Rucksack Sprengstoff? Muratow fuhr plötzlich herum, ungeachtet der Pistole, die sich sofort auf seine Herzgegend preßte.
»Irena!« rief er. »Das ist nicht wahr! Du bist keine Saboteurin! Sag, daß es nicht wahr ist!«
»Wir werden ihn doch erschießen müssen«, sagte der Fahrer auf tschechisch zu Irena. »Was sollen wir anderes tun? Es ist Ihre Schuld –«
»Lassen Sie mich mit ihm reden. Bitte –« Irena ließ den Rucksack fallen und lief zu Muratow. Als sie sein Gesicht im fahlen Nachtdunkel erkannte, sah sie auch seine verzweifelten Kinderaugen. Seine Lippen zuckten, als er mit gepreßter Stimme zu ihr sagte: »Du kämpfst nicht gegen mein Volk … sag, daß es nicht wahr ist. Du willst keinen meiner Brüder töten –«
»Nein, Muratow.« Irena drückte den Arm des Tschechen, der noch immer die Pistole an Muratows Herz hielt, zur Seite. »Niemand soll getötet werden. Ich liebe den Frieden wie du. Ich hasse den Krieg, die Gewalt, den Irrsinn, sich wegen einer Ideologie gegenseitig zu zerfleischen. Unsere Väter haben Dummheiten genug gemacht … wir wollen sie nicht wiederholen. Wir sind eine Generation, die leben will, nicht sich opfern für eine Politik, die später von anderen wieder verbrecherisch genannt wird. Und weil das so ist, Muratow, weil ich
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