Bluthochzeit in Prag
gewesen ist? Ich sage dir … es gibt ein Unglück!«
Sie sprangen in den Wagen, stießen eine Strecke rückwärts, bis sie wenden konnten und fuhren dann bis zur Chaussee ohne Licht weiter. Erst dort schaltete der Fahrer die Scheinwerfer ein und zockelte langsam nach Horni Vltavice zurück. Eine Kolonne von sowjetischen Lastwagen kam ihnen entgegen. Da blieben sie am Straßenrand stehen, rauchten eine Zigarette und beobachteten die Rotarmisten, wie sie müde unter den Planen saßen und mit den Köpfen wackelten.
»Nachschub«, sagte der Fahrer knirschend. »Neue Truppen. Ich glaube, sie wechseln die Regimenter aus. Die Stoßdivisionen haben in den letzten Tagen zuviel gesehen und gehört und werden ideologisch unsicher. Die Neuen diskutieren nicht mehr mit uns …«
Genauso war es. Weit aus der Tiefe Rußlands, aus dem unerschöpflichen Reservoir von Menschen und Material, rollten frische Divisionen in die Tschechoslowakei und lösten die Kampftruppen ab.
*
Sie tappten seit einer Stunde durch den nachtschwarzen Wald, erst hintereinander, dann nebeneinander, als Muratow plötzlich stehenblieb und den Rucksack gegen einen Baumstamm lehnte.
»Wohin gehen wir?« fragte er. Seine Stimme hatte ihren fröhlichen Klang verloren, sie war erschreckend brüchig und alt geworden. Hoch über ihnen, wo die Dunkelheit undurchdringlich wurde, rauschten die Kronen der riesigen Bäume im Nachtwind.
»Ich werde es dir bald sagen, Muratow.« Irena stand vor ihm mit hängenden Armen; unter dem Kopftuch quollen die langen, blonden Haare hervor und hingen ihr in dicken Strähnen über die Augen. »Wir sind jetzt allein. Du kannst mich überwältigen. Ich habe keine Waffen bei mir. Du kannst mich zu Boden schlagen und zu deinen Leuten bringen. Sie werden dir dankbar sein, und du wirst befördert werden, ich weiß es. Sie brauchen nur in den Rucksack zu schauen.«
»Der Rucksack?« Muratow drückte ihn mit den Schultern fester gegen den Stamm. »Was ist in ihm?«
»Schnür ihn auf und sieh nach.«
»Du sagst es mir nicht?«
»Noch nicht.«
»Dann will es auch ich nicht sehen.« Muratow legte den Kopf in den Nacken. Sein Herz schlug wie rasend. Was trage ich da durch den Wald, dachte er. Es ist schwer und kantig, ich spüre es durch den Stoff. Kästen sind es, oder Kartons. »Gehen wir weiter!« Seine Stimme war trocken, wie mit Staub belegt. »Was ändert das jetzt noch, Irena?«
»Du kannst dir Ruhm erwerben, Muratow, wenn du mich bei deinen Leuten ablieferst.«
»Warum quälst du mich so?« Muratow stieß sich von dem Baumstamm ab. »Du weißt, daß ich mich eher ertränken würde.« Er blickte sich um. Der Wald sah überall gleich aus. Nur der Boden wurde steiniger, zerklüfteter, sie mußten sich durch tiefe Hohlwege quälen und sich Hänge hinaufziehen, schwarze Schluchten versperrten ihnen den Weg, sie umgingen sie oder wagten den Abstieg, was ihnen vorkam, als tauchten sie in den Eingang der Hölle. »Wie geht es weiter?«
»Warte.« Irena hockte sich nieder, holte eine Karte aus ihrer Umhängetasche und beleuchtete sie mit einem Feuerzeug. Es war die Karte, die ihr der Parteisekretär mitgegeben hatte und die bisher als großes Geheimnis im Panzerschrank der ›Civilni obrana‹ aufbewahrt wurde. In ihr waren alle Pfade durch den böhmischen Urwald eingezeichnet, selbst dort, wo man bisher glaubte, hier habe seit der Steinzeit kein Mensch mehr die Wildnis betreten.
Eine lange Zeit brauchte Irena, um zu errechnen, wo sie sich jetzt befanden. Der Platz, an dem das Auto angehalten hatte, war eingezeichnet, die Schluchten waren markiert, und wenn die Karte genau war, mußten sie jetzt etwas über tausend Meter von Karel Pilny entfernt sein. Ein kleines rotes Kreuz markierte sein Versteck. Rechts von ihnen, ungefähr 400 Meter nördlich, war ein Lager der Sowjets, das letzte vor der weglosen Wildnis.
»Sieh dir das an«, sagte sie und winkte mit dem Feuerzeug. Muratow kam zu ihr und ging gleichfalls in die Hocke. »Hier sind wir … dort liegt ein Bataillon von euch … und hierhin müssen wir, da, wo das kleine rote Kreuz ist. Es ist immer noch einfach, ein berühmter Mann zu werden. Nur 400 Meter sind es …«
»Wir werden zu dem kleinen roten Kreuz gehen, Irena«, sagte Muratow. Er griff nach ihren aus dem Kopftuch quellenden Haaren, zog ein paar Strähnen an sich und küßte sie. »Du sollst nicht zu mir sprechen, als sei ich ein wildes Tier. Ich liebe dich, Irena …«
Er richtete sich auf, nahm ihr die Karte aus
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