Bluthochzeit in Prag
der Hand, sie leuchtete mit dem Feuerzeug, und Muratow war es jetzt, der sich zurechtfand, den richtigen Weg einschlug und die Landschaft in der Karte wiedererkannte.
Zehn Minuten später lagen sie mit angehaltenem Atem hinter einem Busch. Eine Streife der Roten Armee, vier junge Soldaten, die Käppis keck in den Nacken geschoben, ging an ihnen vorbei. Nur vier Meter trennten sie voneinander … vier Meter, mit denen Muratow sein Vaterland, seine Mamuschka, sein Kiew, seine weiten Sonnenblumenfelder wiedergewinnen konnte. Aber er lag ganz still, hatte den Arm über Irenas Schulter gelegt und preßte sie auf den weichen Waldboden. So warteten sie, bis der letzte Laut der Patrouille verklungen war, dann kroch Muratow aus dem Busch und zog Irena mit sich.
»Weiter –« sagte er rauh.
Beim Morgengrauen – sie sahen es durch das Blätterdach gleiten wie graue Schleier – verwandelte sich der Wald erneut. Er wurde zu einem bizarren Traum, zu einer Landschaft, die kaum noch etwas Irdisches hatte.
Muratow blieb stehen und beugte sich wieder über die Karte. Sie standen jetzt am Rande eines fast kreisrunden Windbruches, und der war nicht eingezeichnet, weil erst im letzten Herbst ein Wirbelsturm die Bäume wie Strohhalme abgedreht hatte.
»Es muß ganz in der Nähe sein, dein Kreuzchen«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf die winzige rote Markierung. »Hier ist der Bach, über den wir gerade gesprungen sind. Dort, die Felsen müssen die gesuchte Stelle sein.«
Es waren für lange Zeit seine letzten Worte. Hinter ihm, aus den dichten Büschen, schnellte ein Schatten hervor und sprang ihn an. Aber dieser Schatten hatte ein großes Gewicht, es war ein Mensch, der wie eine Raubkatze über Muratow herfiel, ihn nach vorn zu Boden warf, ihm den Hals zudrückte und mehrmals gegen die Schläfe schlug.
Die Besinnungslosigkeit erfaßte Muratow so schnell, daß er den hellen Aufschrei Irenas nicht mehr hörte.
»Karel!« schrie sie. »Karel!«
Und der Schatten über Muratow löste sich, breitete die Arme aus und riß Irena an sich.
»Irena! Mein Gott … du bist gekommen … du lebst … o mein Gott!«
Sie küßten sich, klammerten sich aneinander und spürten, wie jeder von ihnen am Ende seiner Kraft war.
»Ich habe Batterien mitgebracht«, stammelte sie und hing an seinem Hals. »Wir können weitersenden … Lebt Micha noch?«
»Ja, er lebt noch –« Karel Pilny drückte Irena an sich. Das Gefühl des Glücks war so stark, daß ihm Tränen in die Augen schossen, und er schämte sich ihrer nicht. Dann blickte er auf den langgestreckten Muratow, dem der Rucksack über den Kopf gerutscht war. »Und wer ist der da?«
»Das ist Semjon Alexejewitsch Muratow, ein Leutnant der Roten Armee«, antwortete Irena. »Er ist ein armer Mensch, Karel … er hat von heute an keine Heimat, keine Mutter, keine Geschwister mehr. Er ist ein Mensch im luftleeren Raum. Wir müssen uns um ihn kümmern, Karel –«
*
Oberst Tschernowskij war nach Pilsen geflogen.
Die in der Nacht vom Himmel geholte Hubschrauberbesatzung kam den sowjetischen Militärs nicht ganz geheuer vor. Leutnant Slavik, der Chirurg aus Strakonice, der Sektionsleiter der ›Civilni obrana‹ und die beiden anderen jungen Burschen wurden einzeln verhört, aber was dabei herauskam, war nur ein Schwall von Beschimpfungen und immer wieder die Frage: »Warum dürfen wir nicht über unser eigenes Land fliegen? Was wollt ihr überhaupt hier? Wer gibt euch das Recht, uns vom Himmel herunterzuholen? Wir sind freie Tschechen –, wir können an unserem Himmel herumfliegen wie die Tauben! Tag und Nacht!«
Auf solche Fragen wollten die sowjetischen Offiziere keine Antwort geben.
So wurden die fünf vom Himmel Geholten erneut eingesperrt, leidlich gut verpflegt und erst wieder herausgeholt, als Tschernowskij sie rufen ließ. Er hatte die Berichte von Peljanow und dem Divisionspolitruk gelesen und fand, daß die Zusammensetzung der Hubschraubermannschaft sehr merkwürdig sei.
»Meine Herren«, sagte er, als die fünf Männer zusammen vorgeführt waren und in einer Reihe vor seinem Tisch standen, »ich begrüße Sie. Ich komme aus Moskau, vom KGB, und ich bin allergisch gegen alle blöden Ausreden und dummen Bemerkungen. Haben Sie mich verstanden?«
»Sehr gut, Genosse Oberst«, antwortete der Sektionsleiter.
Tschernowskij hob die Augenbrauen. Er hatte russisch gesprochen, und man antwortete ebenso. »Sie kennen meinen Dienstrang?« fragte er.
»Aber ja. Ich war doch in
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