Bluthochzeit in Prag
Witterung eines Raubtieres wußte er: Horni Vltavice war der richtige Ort. Irgendwo in den undurchdringlichen Wäldern ringsherum verbargen sich Pilny und Lucek. Noch hatten sie Grund, sich zu verkriechen, noch war es irgendwie sinnvoll, wenn auch unnütz in den Augen der Sowjets, einen Freiheitssender zu bedienen … aber einmal würde auch dieser Patriotismus von der Entwicklung überrollt werden, die Politik in Prag festigte sich wieder, das Moskauer Diktat trug Früchte –, was konnte da noch ein einsamer Sender ausrichten, der Parolen in die Luft funkte, die nicht mehr wert waren als eine Reklame für Kaugummi. Dann mußten Pilny und Lucek aus dem Urwald kommen, und Oberst Tschernowskij stand am Waldrand und konnte sie in Empfang nehmen. Auch hier arbeitete die Zeit, der große, stumme Verbündete der Russen. Wer warten kann, ist immer überlegen.
An Pilny lag Tschernowskij gar nichts. Er konnte zurück nach Prag gehen, wieder im Funkhaus arbeiten und sich eingliedern in die neu ausgerichtete sozialistische Gesellschaft. Aber Michael Lucek … er war wie ein Traumbild für Tschernowskij. Er war zu der Erfüllung seines Lebens geworden. Ihn zu vernichten, ihn wie einen Regenwurm zu zertreten, das war wie ein sadistisches Vergnügen, für das Tschernowskij alles ertragen konnte, selbst eine Entlassung aus dem Dienst des KGB.
Der Bürgermeister wurde blaß, als Tschernowskij ihn am Abend beiläufig fragte: »Wie sind hier die Winter, Genosse? Liegt viel Schnee?«
Eine solche Frage im sonnigen August macht nachdenklich. »Wollen Sie bis zum Winter bleiben?« fragte der Bürgermeister betroffen.
»Wenn es sein muß, sicherlich.«
»Hier ist es so kalt, daß einmal einer, der im Walde pinkelte, festfror.«
»Wie schön«, antwortete Tschernowskij fröhlich. »Ich bin solche Temperaturen aus Sibirien gewöhnt. Ich werde mir rechtzeitig meinen Pelz schicken lassen.«
Der Bürgermeister nickte, bis ins Mark getroffen, und berichtete es der Partei. »Was soll ich tun?« schrie er immer wieder. »Er setzt sich bei mir fest wie ein Leberfleck! Was soll ich bloß tun?«
An diesem Abend traf Valentina in Horni Vltavice ein. Sie hatte sich in Pilsen neu eingekleidet: eine lange Hose, eine geblümte Bluse und eine warme dicke Strickjacke. Am wertvollsten aber war der schwarze Trainingsanzug, den sie in einer Einkaufstasche aus Segeltuch mit sich trug. Der Trainingsanzug ließ sie in der Nacht zu einem Schatten werden; sie wurde eins mit dem schwarzen Himmel und der schwarzen Erde. Schon einmal, in Paris, hatte sie mit einem schwarzen Trainingsanzug Erfolg gehabt. Sie war nachts in den Kartenraum des NATO-Hauptquartiers eingestiegen und hatte einen Plan der Nordatlantik-Logistik, des Nachschubs der Streitkräfte von der Normandie bis zum Nordkap, mit einem Mikrofilm fotografiert. Auch hier war sie ein Teil der Nacht geworden, ein wandernder schwarzer Fleck in der Dunkelheit.
Valentina Kysaskaja war kaum zehn Minuten in der kleinen Stadt, da erfuhr sie in einem Café von der Anwesenheit des sowjetischen Obersten.
Wie schnell er ist, dachte sie ganz ruhig. Wie logisch ihn sein Haß auf Lucek denken läßt. Nur ist die Lage anders, Andrej Mironowitsch. Du bist nicht mehr allein der Jäger … jetzt bist du auch das Wild geworden. So wie du Lucek auf den Fersen bleiben willst, so werde ich dich belauern und von Micha fernhalten.
Wir sollen voneinander wissen, dachte sie weiter. Er soll wissen, daß ich keine Angst habe. Und er soll ständig die Gefahr im Nacken spüren wie einen Furunkel, der brennt und brennt und eitert und nicht zuheilt.
So geschah es, daß Oberst Tschernowskij am Abend zusammenschrak und nach seiner Nagan griff. Gleichzeitig ließ er sich zu Boden fallen und drückte sich auf die Dielen. Das Fenster war plötzlich zersplittert, er erwartete Schüsse oder einen Hagel Steine, und während er in Deckung lag, dachte er darüber nach, ob er morgen früh nicht den Ort besetzen lassen sollte mit der Begründung, ganz Vltavice sei ein Nest von Saboteuren. Solch eine Beschuldigung rechtfertigte jede Maßnahme. Die Angst vor Saboteuren ist seit Jahrhunderten das Trauma der Russen.
Aber es geschah nichts weiter. Das Fenster hatte ein großes, gezacktes Loch, die Gardine wehte ins Zimmer, und auf dem Boden, neben dem Sofa, lag ein dicker Stein, um den Papier gewickelt war.
Tschernowskij erhob sich, ging ans Fenster, blickte hinaus und bemerkte nichts, was er auch gar nicht anders erwartet hatte. Dann nahm er
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