Bluthochzeit in Prag
fast, es laut auszusprechen. Er tupfte mit der flachen Hand über seine Stirn. »Zuerst verschwindet der Gefreite Pjotr Lukanowitsch Tumjaschow bei einem Spaziergang im Wald spurlos … und jetzt kommt Leutnant Semjon Alexejewitsch Muratow nicht von einem Nachturlaub zurück. Auch er … pfft – weg. Verschwunden! Wie eine geplatzte Seifenblase.«
»Das wundert Sie, Genosse Major?« Tschernowskij setzte sich seufzend auf einen Stuhl. »Dieses Mistland ist wie ein Schwamm … es saugt die Menschen auf. Um ganz ehrlich zu sein: Unsere Gegenpropaganda ist lahm. Veraltet. Festgefahren. Beschissen wie ein Säuglingsarsch!«
»Sie meinen, daß Leutnant Muratow …« Peljanow schluckte.
»In den Westen!« sagte Tschernowskij laut.
»Nie!«
»Wieso denn nicht? Ein paar Kilometer weiter beginnt der goldene Boden. Da braucht man nur das Maul aufzumachen, und die Würste fliegen hinein!«
»Nicht bei Muratow. Semjon Alexejewitsch war mein bester junger Offizier. Nur die hervorragendsten Beurteilungen von allen Lehrgängen. Er sollte noch ein Jahr Truppendienst machen, um dann in die Generalstabsausbildung kommandiert zu werden. Ein kluger Kopf. Der zukünftige Marschall. So einer läuft nicht in den Westen über, nur weil ihm dort die Würste in den Mund fliegen …«
»Wer kennt die Menschen?« Tschernowskij wurde elegisch und blickte auf seine Hände. »Wer kann in ein Herz sehen?«
Peljanow atmete auf. »Sie sagen es, Genosse Oberst. Muratow war verliebt.«
»Aha!« Der Kopf Tschernowskijs flog hoch. »Der Satan hole alle weißen Schenkel!«
»Ein Mädchen hatte er sich aufgelesen, im Wald. Zugegeben: Blond, hübsch, eine Wonne, sie anzusehen. Sie hatte sich am Knie verletzt, und er brachte sie auf meinen Befehl nach Vltavice. Dort hat er sie besucht … und vom letzten Besuch kommt er nun nicht mehr zurück. Ich habe nachforschen lassen … niemand hat Muratow gesehen. Das ist verrückt, denn sein Wagen steht noch auf dem Marktplatz. Aber was wollen Sie machen, wenn eine ganze Stadt plötzlich blind wird?«
»Ein blondes Mädchen, sagen Sie?« Andrej Mironowitsch begann unruhig zu werden. Soviel Glück kann ein Mensch gar nicht haben, dachte er und spürte sein Herz wild zucken. Das ist wie in einem Märchen … man braucht eine Königstochter und schwupp, ist sie da, auch wenn sie verkleidet ist als Gänsemagd. Er holte seine Brieftasche heraus und legte einige Fotos auf den Tisch. Es waren vergrößerte Aufnahmen von Pilny, Lucek, Valentina und Irena Dolgan. Major Peljanow sah sie sich einzeln an und schüttelte den Kopf. Bei Irena hieb er plötzlich auf den Tisch.
»Das ist sie!« rief er.
»Aha!« sagte Tschernowskij nur.
»Sie kennen sie? Sie ist bei Ihnen bereits in den Akten? Genosse Oberst – was ist mit meinem Leutnant passiert?«
»Den sehen Sie nicht wieder«, sagte Tschernowskij trocken.
»Also doch in den Westen –« stammelte Peljanow erschüttert.
»Noch nicht. Ihr Musterknabe Muratow befindet sich vielleicht ganz in der Nähe … dort draußen in einer der Urwaldschluchten. Dieses blonde Engelchen heißt Irena Dolgan und ist die Geliebte des tschechischen Funkreporters Karel Pilny. Zusammen mit dem Führer der rebellischen Studenten Michael Lucek ist er hier in der Gegend und hat einen Freiheitssender aufgebaut, den wir noch nicht orten konnten.« Valentina Kysaskaja verschwieg er. Das war eine Privatsache und ein Dienstgeheimnis des KGB. Einen Truppenoffizier ging so etwas nichts an. »Ich bin extra von Prag nach Vltavice gekommen, um dieses Rebellennest auszuheben. Nun ist es sogar noch um einen sowjetischen Leutnant bereichert –«
»Ich werde schwindelig, Andrej Mironowitsch.« Major Peljanow machte wirklich den Eindruck eines Taumelnden. Er hielt sich an der Tischkante fest. »Mein bester Offizier … wer kann das begreifen?«
»Wenn die Hose zu eng wird, verändert sich der Charakter«, sagte Tschernowskij dumpf. Wie wahr das ist, dachte er dabei. Welch eine Wandlung ist auch mit Tschernowskij vorgegangen …
»Fahren wir zurück nach Vltavice. Auch wenn niemand etwas gesehen hat – Sie werden aus den Antworten der Tschechen herauslesen, was geschehen ist.«
Genauso war es.
Der Bürgermeister beteuerte sein völliges Unwissen, der Herr Pfarrer, seines Amtes wegen zur Wahrheit verpflichtet, berichtete, daß sein Gast Irena Dolgan zu ihrer Tante nach Karlsbad gefahren sei. Mehr wußte auch er nicht. Ein sowjetischer Leutnant? Ja, der war ein paarmal zu Besuch hier, auch kurz
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