Bluthochzeit in Prag
Freundin an.
»Micha wird es nie erfahren.«
»Du darfst doch das Haus nicht verlassen.«
»Ich komme hier noch um.« Valentina zerwühlte sich die Haare mit beiden Händen, es war, als zerre und reiße sie daran, um selbst den Schmerz als Ablenkung zu empfinden. »Ich komme mir vor wie eine dieser Stuckputten dort an den Wänden und Decken, wie ein lebendig gewordenes Gipsengelchen, das sich vor Staub kaum bewegen kann. Ich bin kein Mensch, den man einsperren kann.« Sie sprang auf, so heftig, daß Irena zusammenzuckte. »Wir gehen ins Kino. Auf der Straße ist es dunkel, im Kino ist es dunkel, – und überhaupt: Wer soll mich erkennen? Komm –«
Mit einem Taxi, das sie von einer kleinen Wirtschaft am Ende der Straße anriefen, fuhren sie über die Moldau in die hellerleuchtete, im Regen wie poliert glänzende Stadt. Sie bummelten durch die Straßen, standen vor den Schaufenstern der Geschäfte, und kritisierten die neuesten Modeeinfälle. Auch in Prag trug man jetzt Minikleider … nicht alles, was aus dem Westen kam, war schlecht. Und wenn es um die Schönheit einer Frau geht, ist der Tscheche international. Trotzdem es regnete waren die Straßen voller Menschen. Vor den Kinos bildeten sich Schlangen. Regen … das bedeutete volle Theater, volle Wirtschaften, volle Cafés, volle Tanzlokale, überfüllte Jazzkeller. Auch sie gab es in Prag, dem westlichsten Land des Ostblocks.
»Hier sind wir völlig anonym«, flüsterte Valentina und stellte sich in die Schlange vor dem ›Jalta‹-Kino am Wenzelsplatz.
Irena Dolgan zog die Schultern hoch. Ein bedrückendes Gefühl durchzog sie. Es war, als blase ihr jemand in den Nacken, und dieser Hauch war eisig und breitete sich über den ganzen Körper aus.
Der Film, ein Lustspiel, ›Sie kennen Herrn Hadimrska überhaupt nicht‹, wurde von den Pragern bejubelt. Ihr großer Komiker, Vlasta Burian, spielte die Hauptrolle. Wenn er auf der Leinwand erschien, gluckste es in dem Riesenraum des Kinos, dann quoll Lachen auf, schließlich heller Jubel.
Man war sorglos in Prag. Das Leben war herrlich. Warm strich der Sommer aus dem Süden über das Land. Na ja, jetzt regnete es, aber es war ein warmer Regen, die Erde hatte ihn nötig, um weiter zu blühen und noch saftiger in den Farben zu werden.
Die Russen? Wer fürchtete sich noch vor ihnen? Man sah Dubcek, Smrkovsky und Cernik, man blickte ihnen in die fröhlichen, Vertrauen ausstrahlenden Gesichter, hörte ihre Reden vor dem Zentralkomitee der Partei, spürte den frischen Wind einer neuen Freiheit auf den Wangen, eine Erneuerung, die das ganze Volk erfaßte und es durchdrang wie eine Bluttransfusion. Wie schrieben die tschechoslowakischen Schriftsteller an das Zentralkomitee der Partei?
›Genossen! Wir schreiben Euch unmittelbar vor Eurem Treffen mit dem sowjetischen Politbüro, auf dem Ihr über das Schicksal unserer Nation verhandeln werdet. Wie schon oft in der Geschichte der Menschheit werden wenige Männer über die Zukunft von Millionen Menschen entscheiden … Dies ist eine Zeit, in der unser Land nach Hunderten von Jahren wieder zu einer Wiege für Hoffnung – und nicht nur für uns – geworden ist. Es ist eine Zeit, in der wir der Welt beweisen können, daß Sozialismus keine Notlösung für unterentwickelte Länder, sondern eine echte Alternative für die Zivilisation ist …
Das, wofür wir kämpfen, kann in den Worten zusammengefaßt werden: Sozialismus, Gemeinschaft, Souveränität, Freiheit –!‹
Welche Worte! Welche Klänge! War es nicht, als läuteten alle Glocken im Land?
Am 29. Juli sollten die Gespräche zwischen Dubcek und den mächtigen Herren im Kreml in dem kleinen Ort Cierna an der Theiß stattfinden. Gespräche, die alle Gegensätze klären würden. Offene Worte, hinter denen die Herzen von 14 Millionen Tschechen standen.
Die Russen? Gut, sie lagen noch in den Wäldern … aber nach den Gesprächen von Cierna würden sie abziehen. Mußten sie abziehen, denn die ganze Welt blickte jetzt auf das goldene Prag.
Warum also nicht lachen? Warum nicht tanzen? Leute, das Leben beginnt jetzt erst! Die Sparbeleuchtung der letzten zwanzig Jahre wird verschwinden … überall im Lande wird es heller leuchten. Die Lampen der Freiheit gehen an …
Irena Dolgan hatte ein ungutes Gefühl, als der fröhliche Film endlich zu Ende war. Sie konnte nicht erklären, was sie bedrückte, aber es war ihr, als steche ein Blick während der zwei Stunden, in denen sie in dem Polstersessel saß, ununterbrochen
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