Bluthochzeit in Prag
heute früh fünf Uhr sitze ich hier und warte. Überall werden die Funkhäuser besetzt, und ich habe hier einen vollkommenen Sender und kann nichts damit anfangen. Wo bleibt ihr denn?«
»Die Kollegen von Kristanova sitzen noch gefangen im Funkhaus. Mein Sender steht in Kralovice, aber da komme ich nie hin.« Pilny zeigte seinen Ausweis. »Kann ich den Wagen hier haben?«
»Mein Gott, er fragt noch! Steigt ein und haut ab! Funkt in alle Welt, was sie mit uns machen! Schreit die Wahrheit hinaus! Hier sind die Schlüssel –«
Zehn Minuten später fuhr der Fleischerwagen durch das tobende Prag. Niemand beachtete die Kuhköpfe und Schinken. Lucek steuerte ihn, während Pilny und die Mädchen im Innern saßen und die Anlage sendeklar machten. Dabei zeigte sich, daß Valentina eine Menge von den technischen Dingen verstand. Sie schloß Antennen an, koppelte Batterien und verband die richtigen Drähte von Empfängern und Sendern.
»Ich werde verrückt!« sagte Pilny verblüfft. »Du verstehst was von Funktechnik, Miroslava?«
»Nicht viel. Mein Bruder war Funkamateur, da habe ich zugeschaut.«
Sie steckte die Drähte in die Buchsen und versuchte, trotz eingefahrener Antenne einen Empfang zu bekommen. Ganz leise summte es im Lautsprecher … dann eine Stimme … gepreßt, gehetzt …
»Hier spricht der Freiheitssender Brunn! Wir senden noch. Sie haben uns noch nicht gefunden. Brüder, man hat Dubcek und Smrkovsky nach Moskau verschleppt. Man hat sie verprügelt und beleidigt. In Prag ist man dabei, alle Straßenschilder abzumontieren. Auf den Landstraßen werden die Wegweiser übermalt oder in falsche Richtungen umgedreht. Brüder, ihr müßt uns helfen: Holt alle Telefonbücher aus den Fernsprechzellen! Versteckt alle Autokarten! Geheimdienstler, die mit den Sowjets paktieren, sind unterwegs, die Helden des gewaltlosen Widerstandes zu verhaften. Habt Mut! Wir sind 14 Millionen Brüder und Schwestern –«
»In einer Stunde senden wir«, sagte Pilny und klopfte vorne an die Wand zur Fahrerkabine. »Zum Zoo, Micha! Hörst du? Zum Zoo!«
»Höre!« schrie Micha zurück. »Willst du die Giraffen als Antennen benutzen?«
Der Wagen schleuderte um die Ecken, überquerte die Moldau auf der Hlavkov-Brücke und ratterte hinaus nach Troja.
Hier, in der Vorstadt, war es noch still, als seien nie Russen in das Land eingefallen. Zwar tönten in allen Wohnungen seit Stunden die Radios, aber Panzer waren noch nicht durch die Straßen gedonnert. Nur das Brummen der sowjetischen Flugzeuge störte den Sommerfrieden.
Im Zoologischen Garten öffnete der Pförtner sofort das Haupttor, als Pilny seinen Funkausweis zeigte. Der große Tierpark war menschenleer, nur ein paar Tierwärter standen herum, Transistorradios in der Hand, und hörten die Sendungen der über das ganze Land versteckten Funkstellen. Pilny stand außerhalb des Wagens auf dem Trittbrett und dirigierte ihn durch die breiten Wege.
»Das ist eine Idee«, sagte der Oberwärter, der den Fleischerwagen vor dem Affenfelsen anhielt. »Ein Sender im Zoo! Wo wollt ihr hin? Hinter den Eisbären ist ein herrlicher Platz. Da könnt ihr euch in den künstlichen Felsen verstecken.«
»Ich dachte ans Raubtierhaus.«
»Noch besser!« Der Oberwärter sprang auf das Trittbrett und stellte sich neben Pilny. »Da ist sogar ein mannshoher Kanal, durch den ihr flüchten könnt, wenn euch die Sowjets tatsächlich entdecken …«
Das Raubtierhaus, ein breiter Bau mit einer Reihe Käfige aus dicken Eisenstangen, lag neben den Bärenfelsen. Von der Rückseite konnte man hineinfahren, denn hier luden täglich die Pferdemetzger das Fleisch für die Löwen, Tiger, Panther und Leoparden ab.
Um 15 Uhr 20 begann der Sender ›Freies Prag‹ zu senden. In den Wohnungen, auf der Straße, überall im Land hielten die Menschen den Atem an. Auch im Hauptquartier des sowjetischen Generals Pawlowskij, der die Okkupationstruppen befehligte, unterbrach man die Gespräche. Oberst Tschernowskij, der in einem der Zimmer auf einer Couch lag und Kognak trank, um seine Schädelschmerzen abzutöten, hob den Kopf.
»Hier sendet zum erstenmal der Sender Freies Prag«, meldete sich Pilny. Die Stimme klang ruhig und sicher in den abertausend Lautsprechern wider. »Hier spricht Karel Pilny. Die Stimme der Freiheit schweigt nicht. Wir bringen Meldungen aus unserem Land, Meldungen, die wir gerade von privaten Funkern aufgenommen haben.«
»Pilny!« sagte Tschernowskij. »Das ist er! Hinter ihm steht eine Gruppe
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