Bluthochzeit in Prag
gelandet –, die meisten hatten nicht einmal eine Ahnung, wo sie waren. In Polen, dachten sie. Oder irgendwo. Manöver ist wieder. Man hatte ihnen gar nichts erklärt.
Pilny fuhr nur bis an die Ecke der Vinohradska-Straße und blieb im Wagen sitzen. Das Funkhaus war besetzt, das sah er. Ein Ring sowjetischer Soldaten schützte das Gebäude. Ausgebrannte Autowracks, Trümmer, zerrissene Fahnen, Pflastersteine, zerdrückte Kisten, heruntergerissene Leitungen, zerfetzte Benzinkanister, Patronenhülsen, zersprengte Benzinfässer bedeckten den Asphalt.
Die erste große Schlacht war vorbei. Nun standen die Menschenmassen um die Panzer herum, stumm, anklagend, die Augen voller Haß. An den Schaufenstern klebten Plakate oder waren Parolen mit weißer Farbe gemalt, Gruppen von Studenten zogen durch die Straßen, über den Köpfen die flatternden Transparente.
Irena Dolgan hielt Pilny fest, als er die Autotür öffnete. »Willst du trotzdem ins Funkhaus?« fragte sie. In ihrer Stimme lag die ganze Angst um ihn.
»Komm mit! Wie ich Micha kenne, ist er dabei.«
Sie liefen zum Funkhaus und trafen auf eine Gruppe, die mit einer blutverschmierten Fahne mitten auf der Straße stand. Stumm, aber gerade durch diese Starrheit erschütternd.
»Habt ihr Lucek gesehen?« rief Pilny.
»Er muß hier sein.« Einer der Studenten sah sich um. »Vor wenigen Minuten stand er noch dort auf dem Panzer und steckte Blumen in die Turmluke. Sein Mädchen setzte den Offizieren Blumenkränze auf die Helme.«
»Miroslava …« Irena ergriff Pilnys Hand. »Ich hätte das nie von ihr gedacht …«
»Dieser Tag macht uns alle gleich.« Pilny riß beide Arme empor und winkte. »Da ist Micha! Micha!«
Lucek kam mit Valentina aus einem Menschenknäuel, das einen sowjetischen Offizier umringte und mit ihm diskutierte.
Sie rannten aufeinander zu, umarmten und küßten sich.
»Du bist hier«, sagte Lucek. »Mein Gott, wie freue ich mich! Ich dachte schon, du seist mit den anderen im Funkhaus.«
»Was hat man mit ihnen gemacht?« Pilny wirbelte herum und blickte die Fensterfront des Funkhauses hinauf. Überall sah er russische Käppis, aber keinen der Kollegen oder die Sekretärinnen.
»Noch nichts. Man hält sie nur fest. Aber es sind Teufelskerle, deine Kollegen. Sie senden noch immer. Niemand weiß, woher.«
»Das kann nur Studio 12 sein. Es liegt im Anbau. Dort haben die Russen nicht gesucht. Kann man ins Haus telefonieren?«
»Nein. Man hat die Leitungen aus der Wand gerissen.«
»Schweine!«
»Was willst du nun tun, Karel?«
»Das weiß ich genau.« Pilny begrüßte Valentina, auch Irena umarmte sie. Das merkwürdige, innerlich abweisende Gefühl, das sie immer empfand, wenn sie in Valentinas Nähe war, schien verschwunden. Sie sah sie jetzt mit ganz anderen Augen an. Da war ein Mädchen, rußgeschwärzt das Gesicht, die Haare verschwitzt und zerzaust, zerrissen der Pullover und die Blue jeans voller Ölflecke. Die Augen leuchteten wie glühende Kohlen, und wer sie ansah, bekam neuen Mut, neue Kraft und das Bewußtsein, etwas Großes zu tun. Mitreißend war sie in ihrer wilden, verschmutzten Schönheit.
In diesen Minuten bewunderte Irena Dolgan sie und wünschte sich, nur einen Teil dieser urhaften Kraft zu haben.
»Ich habe den Befehl, beim Einmarsch der Russen einen fahrbaren Sender in Kralovice zu übernehmen.« Pilny sah wieder hinüber zum Funkhaus. Männer und Frauen waren dabei, an den unteren Fenstern Plakate anzukleben. Die sowjetischen Wachen vor den Türen hinderten sie nicht daran … sie starrten mit maskenhaften Gesichtern geradeaus auf die Straße. »Doch nach Kralovice komme ich jetzt nicht mehr. In der Kristanova-Straße aber steht noch ein Sender der ›Civilni obrana‹ … wenn er noch nicht ausgefahren ist, kann ich ihn übernehmen. Hast du eine Ahnung von Funktechnik, Micha?«
»Keine Spur! Aber fahren kann ich!«
»Dann los!«
In der Kristanova stand der Funkwagen noch unberührt in der Garage. Es war ein Fleischerauto, auf dessen Seiten man Kuhköpfe und saftige Schinken gemalt hatte. Der Zellenleiter der ›Civilni obrana‹ hockte auf einem Stuhl vor dem Auto wie ein Kindermädchen neben einem Säugling, und sprang auf, als Pilny in die Garage kam.
»Veritas!« sagte Pilny. Es war das Kennwort Wahrheit … was paßte in dieser Stunde besser zu einem Volk, das seiner Wahrheitsliebe wegen zerschlagen wurde.
»Endlich kommt ihr! Schlaft ihr denn?« Der Zellenleiter stürzte Pilny und Lucek entgegen. »Seit
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