Bluthochzeit in Prag
geben? Werden wir gegen die rote Bande schießen?«
»Nein. Das Militär wird in den Kasernen bleiben. Es wäre auch Wahnsinn, sich gegen 350.000 Sowjets aufzulehnen. Sie haben alle wichtigen Positionen besetzt. Sie kontrollieren das ganze Land. Über 4.000 Panzer stehen an allen strategischen Punkten. Sie können uns auf einen Wink hin den Hahn völlig zudrehen.«
»Und so etwas haben wir einmal Freunde genannt. Man sollte sich selbst im Spiegel anspucken vor Scham.« Dr. Matuc trank sein Glas in einem Zuge leer. »Glauben Sie –« fragte er dann, »daß ich meine Frau nicht wiedersehen kann? Daß die Russen an den Grenzen bleiben? Daß wir jetzt Sklaven werden? Daß Paris, München und Los Angeles für mich so entfernt werden wie Mars, Venus und Saturn?«
»Das wird in Moskau entschieden werden, Doktor.«
»Und wir sehen zu, eine Hammelherde, die ihrem Schlächter noch ein Liedchen entgegenblökt? Wenn wir schon untergehen müssen, warum dann nicht mit fliegenden Fahnen und einem Getöse, daß die Welt wackelt?«
»Wir werden nicht untergehen!« Pilny sah in sein Glas. »Wir werden sein wie die Swinegel im Märchen. Immer, wenn der russische Hase sich am Ziel glaubt, wird einer von uns dastehen und sagen: Ich bin schon da! Und wie der Hase im Märchen werden sich auch die Russen bei uns tot laufen. Wir werden verhandeln und nicken, wir werden Befehle entgegennehmen und sie nach unserer Art auslegen, wir werden alles tun, was sie verlangen, aber mit einem Lächeln und einer Eleganz, die sie um den Verstand bringen. Morgen wird es keine Straßenschilder und Wegweiser mehr geben, übermorgen kann der Generalstreik ausbrechen, dann wird es für die Russen keine Lebensmittel mehr geben, alle Lokomotiven sind kaputt, die wichtigsten Personen werden schwer krank sein, die Lastwagen haben Getriebedefekte …«
»Und dann werden die Sowjets schießen!«
»Auf wen denn? Auf die Gewaltlosigkeit? Auf die lachenden Kinder, die ihnen Blumen in die Kanonenmündungen stecken? Auf die Mädchen, die um ihre Panzer tanzen? Auf die alten Frauen, die fragen: Junge, was schreibt deine Mutter aus dem weiten Rußland? Hast du keine Sehnsucht nach ihr, oder nach Marussja, deinem Bräutchen, oder nach Marfa, dem drallen Weibchen, das nun allein im kalten Bett liegt und daran denkt, wie schön es wäre, wenn ihr Pjotr neben ihr läge und sie wärmte? Junge, was machst du hier im fremden Land? – Sollen sie darauf schießen?«
»Er kommt zu sich.« Dr. Matuc beugte sich über Lucek. Micha hatte die Augen aufgeschlagen, aber der Blick war noch starr, leer. Die Infusionsflasche war leer. Dr. Matuc fühlte wieder den Puls und nickte zufrieden. »Er wird kräftiger. Ich werde sofort den Krankenwagen von Kladno anrufen.«
»Warten Sie noch damit, Doktor … bitte …« Pilny stellte sein Glas auf den Tisch. »Haben Sie ein Radio hier? Ich weiß gar nicht, was in den letzten Stunden geschehen ist.«
Dr. Matuc verließ das Behandlungszimmer. Irgendwo in der großen Wohnung klappten ein paar Türen.
»Er sieht uns –« sagte Irena plötzlich. »Micha … Micha … wir sind hier. Du bist bei einem Arzt … Micha …«
Lucek drehte langsam den Kopf zur Seite und sah Pilny aus plötzlich klaren, erkennenden Augen an. Es war ein suggestiver Blick, der Pilny zwang, sich tiefer über Lucek zu beugen.
»Du wärst uns bald abhanden gekommen, alter Junge«, sagte Pilny mit großer Anstrengung, seiner Stimme einen sorglosen Klang zu geben.
»Wo ist Miroslava?« fragte Lucek klar. Seine Stimme hatte so viel ungeahnte Kraft, daß Pilny unwillkürlich zusammenzuckte. Er hob etwas den Kopf, sah auf seine nackte Brust mit den beiden runden Einschüssen, sah seinen Arm auf der Holzschiene, den Tropfständer, die Plasmaflasche, den Schlauch, den Abstellschieber, die Nadel in der Vene, Irena auf dem Sofa, den Arm festhaltend, große, blaue Augen unter völlig verwuschelten blonden Haaren. »Ihr habt Miroslava nicht gesucht …«, sagte er und warf den Kopf zurück auf das Wachstuch. »Ihr habt sie einfach den Russen überlassen! Nicht … eine … Minute … habt … ihr … euch … um … sie … gekümmert … Ihr Feiglinge … ihr – erbärmlichen Feiglinge …«
Er versuchte blitzschnell mit der anderen Hand die Infusionsnadel aus seiner Vene zu reißen, aber Irena hatte noch mehr Kraft als er. Sie drückte die Hand weg und preßte sie auf die Liege. Lucek zerrte noch ein paarmal an ihrem Griff, dann resignierte er.
Dr. Matuc kam zurück.
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