Blutige Rosen
nicht gelogen. Der Hexenturm war verflucht.
Victor fühlte sich nicht mehr in der Lage, auf sein Fahrrad zu steigen. Er war einfach zu schwach, der Schock des erst kürzlich Erlebten nistete noch in seinen Gliedern. Deshalb schob er den Drahtesel vor sich her, denn seine Aufgabe hatte er nicht vergessen. Er wollte die Gärtnerei nach einem Dieb absuchen. Der Turm war leer, da hatte sich keiner versteckt, zudem wäre er von den unheimlichen Geschehnissen leicht vertrieben worden.
Nicht weit hinter dem Turm begann das Gelände der Gärtnerei. Es war eingezäunt. Ein grüner Maschendrahtzaun umlief es. Er erreichte in seiner Höhe etwa die zweimalige Größe eines ausgewachsenen Menschen.
Vorhin, als Victor den Turm betrat, war der Wind steif gegen seinen Körper gefahren, als hätten fremde, unheimliche Mächte ihn dirigiert. Jetzt flaute er ab. Nur noch der normale Nachtwind wehte über die weite Landschaft. Der Mond war auch nicht mehr zu sehen. Victor befand sich allein in der seltsamen, grauen Dunkelheit.
Er bewegte sich an der Ostseite des Geländes entlang. Einen Weg gab es hier nicht. Victor schritt über das Gras einer Weidefläche, auf der im Sommer die Kühe standen.
Vom Ort war nichts zu sehen. Er lag jenseits der Gärtnerei in einer kleinen Senke. Das etwas ansteigende Gelände hier schützte ihn auch gegen das Hochwasser von der Themse.
Wenn sich Victor auf die Zehenspitzen stellte und über die jenseits des Zauns eingepflanzten Gewächse schaute, dann sah er schon die schrägen Dächer der beiden Treibhäuser. Trotz der herrschenden Dunkelheit glänzten sie matt.
Er wollte nicht den Haupteingang nehmen, sondern den kleineren an der Ostseite. Victor besaß für sämtliche Eingänge die Schlüssel. Die kleinen Tore bestanden aus Metallstäben. Zwischen den Verstrebungen spannte sich grünes Drahtgeflecht.
Sein Fahrrad ließ der Mann stehen, als er das kleine Tor erreichte. Er suchte den passenden Schlüssel hervor und öffnete. Die kleine Tür quietschte in den Angeln, als er sie nach innen drückte und das Gelände betrat.
Schachbrettartig waren die Wege angelegt. Dazwischen befanden sich die großen und kleinen Felder, auf denen all das wuchs, was in der Gärtnerei verkauft wurde. Es war ein gewaltiges Gebiet, das Goring sein Eigentum nannte. Für ein Butterbrot hatte er es damals praktisch gekauft und seine wirklich großzügigen Anlagen aufgebaut.
Victor schlug den linken Weg ein. Dort standen die beiden großen Treibhäuser, unter deren Dächern die Rosen gezüchtet wurden. Sie befanden sich auch nicht weit von dem Geschäftshaus und den Verkaufsräumen der Gärtnerei entfernt. Beides war ebenfalls in flachen Gebäuden untergebracht worden, aus Stein errichtete Verkaufsbaracken.
Sein Gewehr hatte Victor wieder von der Schulter genommen. Angst verspürte er nicht, denn nicht zum ersten mal ging er des Nachts über das einsam daliegende Gelände. Auch von den Dieben hatte er noch keine Spur entdeckt. Seiner Ansicht nach würden sie erst gegen Mitternacht erscheinen, wenn sie sicher sein konnten, dass die meisten Menschen schliefen. So jedenfalls stand es immer in den Büchern, die Victor des öfteren las.
Bevor er das erste Treibhaus betrat, prüfte er die Türen des Verkaufsgebäudes. Sie waren verschlossen. Mit einer Taschenlampe leuchtete er die Schlösser ab. Keine Kratzer zu sehen, daran hatte sich wirklich niemand zu schaffen gemacht.
Zufrieden nickte er und schritt weiter. Er ging jetzt über den kleinen Platz, wo auch die rostigen Fahrradhalter standen, und lenkte seine Schritte dem Treibhaus entgegen. Erst wenn man es betreten hatte, erkannte man seine wahre Größe. Von außen sah es wesentlich kleiner aus.
Er öffnete die Tür. Sie war aus Leichtmetall gefertigt und quietschte in den Angeln, als er sie aufschob. Zudem schabte sie noch mit der Unterseite über den Fußboden. Zwischen Beton und Metall hatten sich winzige Steine festgeklemmt.
Der Lampenstrahl stach in die Dunkelheit. Er zerschnitt sie regelrecht, und als Victor die Tür hinter sich zuzog, da umfing ihn eine andere Welt. Die Luft war feucht. Sie legte sich beim Atmen schwer auf die Lungen. Zudem war sie angefüllt mit einem nahezu betäubenden Duft, den Victor regelrecht schmecken konnte, als er ihn einatmete. In der Mitte des Treibhauses gab es einen langen Gang. Rechts und links standen erhöht die Beete mit den Rosen. Es waren wirklich Tausende von Blüten, und alle schimmerten in einem satten Gelb. Zudem liefen
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