Blutige Rosen
alles für möglich, und er neigte seinen Kopf vor, um in die Blütenkelche hineinzuschauen. Sie sahen normal aus. Nur etwas hatte sich verändert. Die Blumen wiegten hin und her, als würden sie einer unhörbaren Melodie gehorchen.
»Das… das ist doch nicht möglich«, murmelte Victor. »Ich… ich glaube, ich spinne.« Er drehte den Kopf und schaute über die anderen Rosenfelder. Sie standen ruhig. Da war nichts, was sie bewegte. Nur die Rosen direkt vor seinen Augen schwangen.
An eine unnatürliche Erklärung wollte er nicht glauben, deshalb feuchtete er seinen rechten Zeigefinger mit der Zunge an und streckte ihn in die Höhe, um zu prüfen, ob nicht doch Wind durch das Treibhaus fuhr. Er merkte nichts. Aber die verdammten Rosen schwangen von einer Seite zur anderen. Da stimmte doch etwas nicht.
Vorsichtig führte er die Hand an eine Blume. Mit zwei Fingern nur fasste er zu, drückte das Blütenblatt zusammen und vernahm plötzlich einen Schrei.
Er war aus der Blüte gedrungen!
Für eine winzige Zeitspanne schien der Mann regelrecht einzufrieren, dann zog er seine Hand so heftig zurück, als hätte er einen Stromstoß bekommen.
Die Blume hatte geschrien!
Weshalb? Weil er sie angefasst und ihr vielleicht Schmerzen zugefügt hatte? Man schrie nur, wenn man Schmerzen verspürte. Ja, ein Mensch, aber keine Blume. Schließlich war sie nur ein Gewächs. Ein kleines, mieses Gewächs und kein Lebewesen.
»Verflucht!« stieß Victor hervor und wischte über seine Stirn, weil sich dort Schweiß angesammelt hatte. »Diese verdammten Rosen bringen mich noch um den Verstand.« Er glaubte, mit der letzten Entdeckung die Schrecken erkannt zu haben, aber er sollte sich irren. Es lauerten noch ganz andere Dinge auf ihn. Was er eben erlebt hatte, war nicht mehr als ein kleines Vorspiel.
Mit fünf abgespreizten Fingern wischte er über sein Gesicht und knetete mit den Kuppen die Haut. Er blickte auch durch die Öffnungen und sah, dass sich die Rosen verändert hatten. Auf schaurige Art und Weise sogar.
Sie spien eine rote Flüssigkeit, die dicht und träge aus ihren Kelchen rann und nur eins sein konnte.
Blut! Blutige Rosen! Victor konnte es nicht fassen. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben erlebt. Rosen, aus deren Kelchen Blut tropfte. Das war einmalig, das gab es nicht, das war Hexerei. Jawohl, Hexerei. Nicht nur der Turm war verflucht, sondern auch das Gelände der Gärtnerei. Hier lauerte das Böse, das Unheimliche, und er, Victor, war mitten hineingeraten in den Strudel des Schreckens. Nicht nur aus einer Blume strömte das dicke, zäh wirkende Blut. Es füllte schon bald die gesamten Kelche aus, strömte über und lief an den Rändern entlang nach unten. Dabei konnte es sich nicht halten. Als dicke Tropfen klatschte es nach unten, fiel auf die grünen Blätter, die sich wegen des Gewichts durchbogen, und landete schließlich auf dem Boden, wo es in der lockeren Erde versickerte, damit es sich sammeln konnte, um anschließend wieder in die Stengel zu steigen, wo der makabre Kreislauf von vorn beginnen konnte.
Victor wusste sich keinen Rat mehr und schlug hastig ein Kreuzzeichen. So wollte er dem Teufelsspuk begegnen, aber das Blut strömte weiter und hatte nun jede einzelne Blüte erfasst.
»Nein!« keuchte er. »Nein, das halte ich nicht aus. Das kann nicht sein.«
Er machte auf dem Absatz kehrt, ließ sein Gewehr stehen und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Wie von Furien gehetzt, brachte er genügend Distanz zwischen sich und das makabre Rosenfeld. Er kannte den Weg zwar sehr gut, doch nun geschah das, was ihm zuvor noch nie passiert war. Er stolperte, verlor den Halt und fiel hin. Mit der Schulter rammte er noch einen der hochstehenden Blumenkästen, bevor er sich auf dem Boden überrollte, abstützte und auf die Füße kam. Den Schmerz an der Hüfte verbiss er sich, er wollte nur weg, raus aus diesem Treibhaus des Teufels.
Mehr stolpernd als gehend näherte er sich dem rettenden Ausgang. Wenn er einmal an der Luft war, dann bekamen ihn keine zehn Pferde mehr zurück. Da interessierte ihn auch nicht der Auftrag, da wollte er nur weg von diesem Ort.
Den Schatten sah er, als es fast zu spät war. Hochgewachsen stand er vor ihm. Zuerst glaubte er an eine Täuschung, doch als er fast gegen ihn gerannt wäre, da erkannte er, dass es ein Fremder war. Dumpfe Schreie drangen aus seinem Mund, als er stoppte und beide Arme hochwarf.
Der Fremde stand dort wie ein Denkmal. Sein Gesicht lag im
Weitere Kostenlose Bücher