Blutige Spuren
dem man direkt in ein schmales, langes Bad blickte. Ansonsten gab es eine Stahltür. Für sie passte ein zweiter Schlüssel. Isabel vermutete, dass dies einmal die eigentliche Wohnungstür gewesen war und dass das Bad erst später vor die Wohnung gesetzt wurde. Sie brauchte etwas Kraft und einen bestimmten Kniff, um die Stahltür zu öffnen.
Isabel gelangte in eine Küche mit einem großen runden Tisch. Es gab die üblichen Überbleibsel alltäglichen Herumwurstelns. Der Kochbereich war nur durch einen Tresen vom Rest des sich sehr lang nach hinten streckenden und hohen Raumes getrennt. Isabel schätzte ihn auf fünf Meter in der Höhe. Bei der Länge beschränkte sie sich darauf, über die vielen Reihenfenster an der einen hofseitigen Längswand zu staunen.
Schnell hakte sie ihre ersten Eindrücke ab: Keine Gefahr. Keine Einbruchsspuren. Keine Leichen. So weit sie sehen konnte.
Die Wohnung war bunt und vollgestellt, aber so stilgemischt die Möbel auch waren, es handelte sich nicht nur um Billigware. Einige Regale sahen teuer aus, andere selbst zusammengebaut. Es gab einen kleinen Nierentisch und eine edle Récamière, einen roten Sitzball und einen Stuhl mit einer blankpolierten zwei Meter hohen Rückenlehne. An einem offenen Schrank mit einer stattlichen Musikanlage lehnten zwei Gitarren, davor stand ein Schlagzeug. Isabel konnte nicht widerstehen und erzeugte mit den latexummäntelten Fingernägeln auf dem Becken ein säuselndes Crescendo. Dann suchte sie das Bett.
Sie fand es ganz am Ende des Raumes in einer fensterlosen Ecke, umgeben von einem japanischen Paravent aus Holz und Glas. Isabel erinnerten die Figuren, Bäume und Schiffe darauf an den Namban-Wandschirm im Museu Nacional de Arte Antiga. Der Wandschirm in Lissabon war eines der eindrucksvollsten Zeugnisse portugiesischer Kolonisation und zeigte, wie die Soldaten und Händler des sechzehnten Jahrhunderts freundlich von den hochzivilisierten, bis dahin vollkommen abgeschotteten Japanern empfangen wurden. Die » Gäste « wurden förmlich vergöttert, aber die Geschichte ging nicht gut aus. Der Paravent um Seesands Bett bildete nur Japaner ab, er war auch nicht antik und wahrscheinlich nicht einmal made in Nippon.
Das Bett war breit und schmiedeeisern. Am Kopfende baumelte eine Sammlung von Handschellen. Angeber!, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Ein Bücherstapel neben dem Bett und ein Haufen mit geschlossen oder aufgeschlagen daliegenden Büchern sahen so aus, als würde gleich jemand mit einer Fackel kommen, um sie anzuzünden.
Die Kleidung, die herumlag, deutete nicht auf die Anwesenheit einer Frau. Es ist auch keine WG , dachte Isabel und rekapitulierte im Schnelldurchgang, was sie im Bad und in der Küche gesehen hatte. Jedoch – wie zweifelsfrei ließ sich das in dieser Wohnung beurteilen?
In welche Richtung sie auch blickte, immer entdeckte sie etwas, das erst eingeordnet werden musste, um es zu verstehen. Da lehnten zum Beispiel große Platten an der Wand. Isabel schätzte sie auf vier mal vier Meter. Die äußerste Platte ließ sich mit einiger Mühe zurückziehen. Auf der Innenseite war über die ganze Fläche ein Foto aufgezogen. Es zeigte ein modernes Fenster. Die anderen Platten ließen sich nicht ohne weiteres ansehen, denn es war Isabel zu schwer, zwei oder gar drei dieser Platten zu halten.
Sie suchte nach einer Fotoausrüstung. Tatsächlich gab es neben einem Nest aus Bürostühlen einige eingeklappte Stative und Lichtschirme.
Isabel ließ ihren Blick über die Bildbände gleiten. Obwohl alles durcheinander und übereinander gestapelt schien, gab es offenbar doch eine Logik.
Vielleicht war Seesand Theaterwissenschaftler, überlegte sie. Es gab etliche Bücher über Theatertheorie, dazwischen viele Stücke: die Griechen, Shakespeare, die unvermeidlichen Brecht und Ionesco, Arthur Miller komplett bis in die heutige Zeit, gefolgt von Dario Fo, Bücher über Tanz, Feiningers Werke zur Fototechnik etc. Zwischen all denen standen und lagen geheftete, geklebte oder geklammerte Reader und Manuskripte. Isabel zog einige heraus und las die Titel: » Existentialismus und Illusion « , » Osteuropäischer Fotorealismus in der Entgrenzung « , » Der Tisch « …
Der Tisch?, nie gehört, dachte Isabel. Sie las: » Eine Szenenfolge von S. Seesand « . Auf der dritten Seite stand das Datum: 1982. Es war eine Kopie getippter Seiten. Fehlgesetzte Buchstaben waren sorgfältig per Hand nachgezogen. Isabel hielt Ausschau nach
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