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Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Liemann
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schlafen. Soll ich beide Wohnungen übernehmen? «
    » Kommt nicht in Frage. Wir teilen uns das. Du hast doch seitdem auch nicht gepennt. «
    » Ich hab’ am Morgen gar nicht gefragt, wie es bei der Telefonseelsorge war – und …? «
    » Du hattest ja auch unseren Vizepräsidenten vor Augen. – Es war … Stimmt, es ist nicht gut gelaufen am Telefon. Hatte ich schon verdrängt. Hab’ am Ende die Kontrolle verloren, mich von einer Frau müde reden lassen. Und war nicht wachsam genug. – Es ist interessant, bei den Toten heute … Die Toten haben mit einem Schlag – oder mit einem Stich – keine Probleme mehr. Die Lebenden plagen sich mit ihren kleinen und großen Sorgen. Ich frage mich, ob ich vielleicht deshalb bei manchen Leichen kein Mitleid empfinde. «
    Isabel hob die Brauen. » Hm. Bei mir ist es unterschiedlich. – Aber glaubst du wirklich, alle Lebenden sind geplagt von Sorgen? Ist das nicht deine spezifische Seelsorger-Perspektive? «
    » Nein, glaub ich nicht. Ich glaube, jeder hat Sorgen. Für jeden sind es immer die größten Sorgen, die er gerade hat. Mit mehr oder weniger Einsprengseln von Momenten glücklichen Verdrängens. «
    » Du wärst ein guter Portugiese « , sagte Isabel und schien zu überlegen, ob sie recht hatte.
    Sternenberg sah sich noch einmal um. Tarek stand reglos im Dunkeln vor dem Lichtkreis mit der Leiche und den weißen Männern und dem, was sie auf Folien bargen.

6
    Isabel fuhr die Hasenheide hinunter auf den Herrmannplatz zu. An der Ampel lief eine Gruppe türkischstämmiger Jugendlicher vor dem Kühler vorbei und wippte mit den Hüften. Isabels Polizeiblick war kritisch. Die drei Jungs wirkten bullig, einer trug eine Goldkette, die Mädels waren für Isabels Geschmack überschminkt. Sie schaute zur Imbissbude hinüber, deren Umgebung einen ruhigen Eindruck vermittelte.
    In dem Kreuzungsgewirr hinter dem Herrmannplatz verpasste sie eine Seitenstraße, aber die nächste tat es auch, um auf die Sonnenallee zu kommen. Ihr Ziel war eine der Parallelstraßen zum Neuköllner Schifffahrtskanal.
    Die Kanäle Berlins – die hatten schon immer ihre Phantasie angeregt. Ihre eigene Heimatstadt lag am Meer. Das Meer hatte aus Lissabon einmal das Zentrum eines Weltreiches gemacht, das von Südamerika über Afrika bis in die Nähe Japans reichte. Wer von Lissabon aus ins Hinterland wollte, nach Europa – doch wer wollte das schon? –, der hatte als Verkehrsweg den Tejo, welcher sich als Tajo vom Iberischen Gebirge aus über das spanische Toledo über tausend Kilometer weit seinen Weg bahnte.
    Berlin dagegen war eine Stadt auf einer riesigen Platte aus Festland. Um Richtung Osten ans nächste Meer zu gelangen, musste man bis Sibirien, China oder Indien reisen. Zu der Zeit, als sich hier die Industrie entwickelte, wurde diese Stadt mit künstlichen Flüssen erschlossen. Isabel stellte sich gern vor, wie Schiffe ihre Ladungen durch dieses Kreislaufsystem brachten. Heute wurde der Rest des Kanalnetzes von Touristen, Wasserpolizisten und ein paar fehlgeleiteten Schuttschiffen befahren. Ja, es wurden noch immer alte Wasserstraßen und sogar Teile der großen Berliner Binnenhäfen zugeschüttet, so als sei der Lkw der Weisheit letzter Schluss.
    Ohne es bewusst wahrgenommen zu haben, stand sie in der Weserstraße und hatte einen Parkplatz. Sie blickte sich nach allen Seiten um: Im Gegensatz zum Herrmannplatz wirkte die Straße leer und dunkel. Es gab noch Gaslaternen, jedenfalls hatten sie deren Form und mattes Licht. Die Jalousien der Geschäfte waren heruntergelassen, und die Kneipenschilder luden niemanden ein.
    Um zu Seesands Wohnung zu gelangen, musste sie durch zwei Tordurchfahrten über einen Hof gehen und dort den richtigen Eingang finden. Das Treppenhaus zeigte seine unverputzten Wände, obwohl sie vor einer Ewigkeit einmal verputzt gewesen zu sein schienen. Es gab die untrüglichen Spuren, dass das Gebäude ursprünglich für Maschinen und Arbeiter gebaut worden war: Isabel machte es an den dicken Leitungen und Verteilern sowie den alten Schildern aus, an der Schmucklosigkeit des Ganzen.
    Die Klingel am Namensschild Seesands war nachträglich und etwas schlampig angebracht worden. Isabel hoffte, dass ihr niemand öffnete. Todesnachrichten zu überbringen, daran hatte sie sich nie gewöhnt, und es beschäftigte sie jedes Mal lange über die Gespräche hinaus.
    Von drinnen kam keine Reaktion. Sie zog die Handschuhe über und nahm den Schlüssel. So kam sie in einen winzigen Raum, von

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