Blutige Spuren
Staatsadler, der seine Flügel ausbreitete, als wolle er in den Sturzflug übergehen; ein teuer aussehendes Schreibset mit der Prägung » President of the United States of America « – also doch Bill Clinton …; einen zur Statue passenden Bilderrahmen mit dem Foto der milde lächelnden Gattin Hillary; eine Schreibunterlage mit dem Staatswappen der USA . Es erstaunte Isabel nicht, im Schränkchen über dem Regal einen Apparat zu finden, den sie für einen Teleprompter hielt.
Sebastian Seesand, der bisher eher den Anschein eines politisch Linken erweckte, der mutmaßlich nach Berlin gekommen war, um der Wehrpflicht zu entgehen, dann auch noch Psychologie an der verdächtigen Freien Universität studiert hatte – dieser Mann spielte in seiner Freizeit amerikanischer Präsident? Ergab das einen Sinn? Isabel erinnerte sich an die eine Fotoplatte von vorhin – spielte er möglicherweise auch Bundeskanzler?
Von den Fotoplatten, die an der Wand lehnten, legte sie nun die erste Platte vorsichtig und mit einiger Kraftanstrengung auf den Boden. Auf der zweiten war eine Bürowand abgebildet, die durchaus zum Kanzleramt passen mochte. Das galt auch für die anderen Fotos.
Isabel platzierte sich in der Mitte des vollgestellten Lofts und drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie wusste nicht, wonach sie noch suchen sollte. Ein Mann, der früher Theaterstücke schrieb – eventuell ohne Erfolg, vielleicht aber auch auf irgendeiner Studentenbühne aufgeführt –, lebte in den Kulissen des Weißen Hauses und des Kanzleramtes von Berlin. U-Boote in der Loire. Schlagzeug und Hinterausgang.
Maria Isabel Dacosta hatte vieles gesehen in dieser halben Stunde. Und sie fühlte sich so ratlos wie lange nicht mehr.
Kai Sternenberg hatte bis Rathaus Spandau die U-Bahn genommen. Zum Stresow ging er zu Fuß. Sein Freund Rolf Korbmann hatte ihm diese Ecke Spandaus einige Jahre zuvor gezeigt und ihm aus der Geschichte erzählt.
Die historischen Fassaden des Stresow waren teilweise vernachlässigt und wurden beeinträchtigt durch einfallslose Neubauten der Fünfziger- oder Sechzigerjahre sowie durch die Lärmschutzwand der Bahntrasse. Aber das Laternenlicht war barmherzig.
Der Nieselregen hatte aufgehört. Es schien ein wenig wärmer geworden zu sein. Riecht es trotzdem nach Schnee? Wir haben erst Ende Oktober, wunderte er sich.
Als er nach den Hausnummern Ausschau hielt, fiel ihm auf, dass dies eine Standardsituation war. Wann immer er als Jugendlicher mit dem Gedanken gespielt hatte, zur Kripo zu gehen, er hatte sich beim Überbringen von Todesnachrichten gesehen. Vielleicht habe ich zu viele » Tatorte « gekannt oder zu viele Krimis gelesen?, dachte er. Fast immer drückten sich die Polizisten davor, die schlechten Nachrichten zu überbringen, gerade in den neueren Krimis. Ihm ging es da anders – seit jeher. Genau diese Situation empfand er bereits vor der Ausbildung als einen wesentlichen Ausgangspunkt kriminalpolizeilicher Arbeit – man hat eine psychologische Verpflichtung den Menschen gegenüber, die man mit Tod und Verbrechen konfrontiert. Zugleich war die Reaktion der Angehörigen unter Umständen ein erster, entscheidender Hinweis auf die Umstände der Tat.
In ehrlichen Augenblicken, in ausgeschlafenen Momenten freute Sternenberg sich sogar auf solche Situationen. So wie er sich manchmal auf den Dienst bei der Telefonseelsorge freute.
Außenstehenden konnte man das kaum vermitteln. Wer schon hatte Verständnis dafür, dass man sich darauf freuen konnte, Menschen in ihrem Leid zu erleben? Doch es ging ja nicht darum, ihnen dieses Leid zuzufügen, auch wenn man dafür eventuell der Auslöser war. Die Aufgabe lautete, bei ihnen zu sein und sie möglichst professionell zu stützen.
Rolf Korbmann war ein seltener Freund, mit dem man über solche Gefühle sprechen konnte. Er hatte mehrfach für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet. Und machte sich nicht vor, ein Altruist zu sein.
Kai Sternenberg kündigte, bevor er das Mietshaus mit Huths Wohnung betrat, per Handy seinen Besuch bei Rolf an, der am anderen Ende Spandaus wohnte. Schließlich hatte Sternenberg deshalb die Wohnung im Stresow übernommen. Er wollte die Pflicht mit dem Angenehmen verbinden.
Die Wohnung ließ sich mit einem Wort zusammenfassen: penibel. Sie war einfach eingerichtet, wie es der billige Neubau versprach. Im Flur standen die Schuhe minutiös aneinandergereiht, wie mit dem Winkelmaß ausgerichtet. In allen Zimmern lag elfenbeinfarbener Teppich ohne
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