Blutige Stille. Thriller
eintrete, blickt sie von ihrem Computer auf. »Chief Burkholder?«
»Ja.« Wir schütteln uns die Hände.
»Doc Coblentz erwartet Sie.«
Das Namensschild auf ihrem Schreibtisch verrät mir, dass sie Carmen Anderson heißt. »Sie sind bestimmt seine neue Assistentin.«
»Ich bin Teil des neuen Budgets. Am Dienstag habe ich angefangen.«
Ich blicke zu der Tür, die in den Vorraum der Leichenhalle führt. »So haben Sie sich Ihre erste Arbeitswoche sicher nicht vorgestellt.«
»Der Doc meinte, so ein volles Haus hätte er das letzte Mal vor drei Jahren gehabt, als auf dem Highway ein Lastwagen mit dem Auto einer Familie zusammengestoßen ist.« Sie verzieht das Gesicht. »Wissen Sie schon, wer das gemacht hat?«
»Wir arbeiten dran.« Ich zeige zur Tür. »Ist der Kriminaltechniker noch da?«
»O ja.« Sie lächelt. »Hübscher Junge. Er sollte besser in Seifenopern mitspielen, anstatt mit Toten rumzuhängen.«
Als ich durch die Schwingtür trete, hat sich meine Laune etwas gebessert. Zu meiner Linken sitzt Doc Coblentz in seinem verglasten Büro am Schreibtisch. Wie üblich sind die Jalousien hochgezogen. Der junge Mann ihm gegenüber auf dem Besucherstuhl trägt einen lavendelfarbenen Arztkittel und schreibt etwas in eine Tabelle. Beide Männer blicken auf, als ich auf ihr Büro zusteuere.
Doc Coblentz erhebt sich und reicht mir die Hand. »Chief Burkholder.«
Der Kriminaltechniker steht ebenfalls auf. Die Assistentin hat recht: Er ist wirklich niedlich. Und sieht so jung aus, dass er in der Highschool kaum auffallen würde. Oder ich werde einfach nur älter. »Ich bin Dr. Rohrbacher«, stellt er sich vor.
»Sie sehen zu jung aus, um schon Arzt zu sein«, bemerke ich.
»Das höre ich öfters.« Strahlend weiße Zähne blitzen mich an. »Ich sage dann immer, meine Assistenzzeit hat mit vierzehn begonnen.«
Ich lächle zurück, doch es fällt mir nicht leicht, denn mit den Gedanken bin ich schon bei der toten Familie im Nebenraum und der Arbeit, die mich erwartet. »Haben Sie schon was für mich?«
»Mit zwei Autopsien sind wir fertig.« Ich ziehe einen blauen Kittel, Schuhhüllen, eine Plastikhaube und Latexhandschuhe an. »Entschuldigen Sie das Chaos«, sagt Doc Coblentz, als wir den Flur entlanggehen. »Man hat uns endlich das Geld zum Streichen genehmigt.«
Am Ende des Flurs sehe ich eine Stehleiter, Abdeckplanen und eine eher langweilige blaue Wandfarbe. »Blau ist ein klein bisschen besser als grau«, sage ich trotzdem.
»Es soll eine beruhigende Wirkung haben.« Coblentz stößt die Schwingtüren auf.
Ich betrete den Autopsieraum nicht gerade gelassen. Die meisten Polizisten erfinden die tollsten Ausreden, um diesen Ort zu meiden. Während meiner Zeit bei der Mordkommission in Columbus haben nicht wenige altgediente Polizisten ihr Frühstück rausgekotzt oder sind weinend zusammengebrochen. Gestandene Kerle, die sich lieber selber ins Bein schießen würden, als eine Schwäche zu zeigen. Meine eigene Reaktion auf den Tod ist eher emotional als physisch, besonders wenn es um Mord geht. Wut und Empörung ergreifen mich und bohren sich wie riesige Parasiten unter meine Haut. Ich versuche, sie zwar unter Kontrolle zu halten, doch sie verfolgen mich Tag und Nacht, bis der Fall gelöst ist.
Der grau geflieste Autopsieraum hat immer gleichbleibende kühle sechzehn Komma sieben Grad und riecht trotz hochmoderner Klima- und Lüftungsanlage stets nach Formalin und faulendem Fleisch. Unter dem gleißenden Licht der Neonröhren stehen sieben Seziertische aus Edelstahl, die alle belegt sind.
»Wir hatten nicht genug Rollbahren für alle Leichen und mussten uns welche aus anderen Abteilungen borgen«, bemerkt Doc Coblentz beim Betreten des Raums.
An drei Wänden stehen stählerne Unterschränke mit weißen Plastikeimern und Tabletts mit Instrumenten darauf, deren Verwendung ich mir lieber nicht vorstelle. In einem Schrank sind zwei tiefe Waschbecken eingelassen, mit großen, gebogenen Wasserhähnen, über einem anderen hängt eine Waage wie im Supermarkt zum Wiegen von Obst und Gemüse. Sie wirkt auf obszöne Weise deplatziert.
Ich weiß nicht genau, warum ich mir das hier antue, glaube aber, dass ein Polizist vom unverstellten Anblick eines Toten einiges erfährt. Wobei die nützlichsten Informationen natürlich im Autopsiebericht stehen. Trotzdem komme ich immer her und erweise den Verstorbenen die letzte Ehre. Vielleicht hilft mir der Anblick der Opfer, nicht zu vergessen, dass es sich bei einem
Weitere Kostenlose Bücher