Blutige Stille. Thriller
»Aber der Verlauf der Geschossbahn spricht nicht für eine selbst beigebrachte Wunde.« Als handele es sich um zerbrechliches Porzellan, umfasst er den Kopf mit beiden Händen und dreht ihn etwas, so dass Amos Planks Hinterkopf zu sehen ist. »Die Kugel ist hier ausgetreten.«
Die große Austrittswunde ist gezackt und liegt nur wenige Zentimeter oberhalb des Nackens. In der Wunde stecken weiße Knochensplitter, und das Fleisch verfärbt sich am Rand bereits rotbraun. »Die Kugel hat beim Austritt den ersten Halswirbel zertrümmert.«
»Und das heißt?«
»Die Geschossbahn verläuft in einem leichten Abwärtswinkel. Bei einem Selbstmord verläuft sie gewöhnlich aufwärts, wobei die Kugel entweder den Scheitellappen oder den Hinterhauptlappen durchschlägt und am Hinterkopf austritt. Die Autopsie muss das zwar noch bestätigen, aber meiner Meinung nach stand derjenige, der den Mann erschossen hat, über ihm. Das Opfer hat wahrscheinlich gekniet, so dass die Kugel abwärts verlief, das Rückenmark des ersten Halswirbels zerschmetterte und etwas über dem Nacken austrat.«
»Dem stimme ich zu.« Doc Coblentz nimmt die Brille ab. »Das und die Druckstellen an den Handgelenken führen uns zu der Schlussfolgerung, dass auch er ermordet wurde.«
Obwohl ich es geahnt hatte, erschüttert mich das Bild, das ich vor Augen habe: Amos Plank auf den Knien, der Mörder steht vor ihm und steckt ihm die Waffe in den Mund. Ein Mord im Exekutionsstil ist mit dem Verstand schwer zu fassen. Und jemand, der kaltblütig in die Augen eines anderen Menschen sieht und abdrückt, ist das Böse schlechthin.
10 . KAPITEL
Im Oktober gehen die Tage sanft in den Abend über, wird die grelle Nachmittagssonne nur ganz allmählich vom kühlen Abend abgelöst. Doch heute kommt die Dämmerung nicht friedvoll daher. Ich sitze in meinem kleinen überfüllten Büro am Computer und sehe im Westen dicke Wolken aufziehen, die die letzten Lichtfetzen am Horizont verdunkeln. Blitze erhellen schwarze Gewitterwolken, als wollten sie den Sturm versinnbildlichen, der in mir tobt.
Die Familie Plank ist jetzt seit zirka achtundvierzig Stunden tot. Ich sollte erleichtert sein, dass die Autopsie von Mary Plank Beweise zutage gefördert hat, die vielleicht zur Aufklärung beitragen können. Wenn die DNA erst einmal analysiert und durch die Datenbank gelaufen ist, könnte das Ergebnis uns einen Namen liefern. Doch in mir gibt es eine leise zweifelnde Stimme, die mir zuflüstert, dass es so einfach nicht werden wird.
Damit das System einen Namen ausspuckt, muss der Täter irgendwann einmal in seinem Leben verhaftet worden sein. Außerdem müssten die Daten in die Datenbank eingegeben worden sein, was manchmal unterbleibt. Und wenn er bis jetzt eine reine Weste hatte?
DNA und Fasern sind natürlich wichtig, um einen Fall hieb- und stichfest aufzubauen, besonders wenn jemand vor Gericht gestellt wird. Doch eines habe ich in all den Jahren als Polizistin gelernt, nämlich dass einem nichts auf dem Silbertablett serviert wird. Wir sind weit davon entfernt, jemanden zu verhaften, geschweige denn vor Gericht zu stellen – ich habe ja noch nicht einmal einen Verdächtigen. Die Verantwortung dafür lastet schwer auf meinen Schultern.
Ich hatte noch einmal mit dem Techniker von der Spurensicherung am Tatort gesprochen und ihn gebeten, besonders nach Mary Planks fehlendem Uterus zu suchen. Falls wir nämlich einen Fötus hätten, könnten wir die DNA des Erzeugers extrahieren. Sie werden morgen eine Firma hinschicken, die normalerweise Klärgruben entsorgt. Sie soll die Abwasserrohre und Tanks überprüfen, falls er im Klo runtergespült wurde. Und ich werde meine eigenen Leute noch einmal gewissenhaft das Grundstück absuchen lassen. Aber der kleine Körperteil könnte überall sein.
Ich sollte nach Hause fahren, etwas Anständiges essen und schlafen gehen. Die kommenden Tage und Wochen werden anstrengend, so viel ist sicher. Doch angesichts einer toten siebenköpfigen Familie und eines frei herumlaufenden Mörders ist es illusorisch, an Schlaf auch nur zu denken.
Ich nehme Jacke und Autoschlüssel und verlasse mein Büro. Die neue Telefonistin, die ich vor kurzem für die Abendschicht eingestellt habe – eine junge Frau von einundzwanzig Jahren –, sitzt am Telefon und feilt sich die Fingernägel. »Machen Sie Feierabend, Chief?«
Jodie Metzger ist blond und hübsch und hatte nicht nur eine, sondern vier begeisterte Referenzen vorzuweisen. Die natürlich alle
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