Blutige Stille. Thriller
Umrisse einer Holzbank, eines niedrigen Tisches mit einer Laterne darauf, dunkel und kalt. Ich leuchte mit der Taschenlampe durchs Zimmer. Die Blutlachen bedecken den Boden wie schwarze Matten. Mein Herzschlag setzt aus, als sich links von mir etwas bewegt. Sofort lenke ich den Strahl meiner Taschenlampe dahin, doch es ist nur eine Gardine, die sich im Wind bauscht. Wahrscheinlich hat einer der Kriminaltechniker das Fenster geöffnet, um frische Luft reinzulassen.
Ich verschließe es wieder, drehe mich um und leuchte mit der Lampe auf die Blutlachen, muss an die Kinder denken: Dieses Haus war einmal voller Leben und Licht. Die meisten amischen Häuser sind gastfreundlich, warm und herzlich, die Familien eine enge Gemeinschaft. Ob die Planks glücklich oder traurig oder irgendetwas dazwischen waren, weiß ich nicht. Aber dass sie den Tod nicht verdient haben, weiß ich bestimmt.
Regen trommelt an die Fenster wie ungeduldige Finger. Ich gehe die Treppe hinauf in den ersten Stock. In dem schmalen Flur muss ich an Mary Plank denken. So jung und hübsch. Und schwanger. Sie hatte eine sexuelle Beziehung. Aber mit wem? Ich frage mich, ob diese Beziehung oder ihre Schwangerschaft etwas mit dem Mord an ihrer Familie zu tun hatten. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein unwilliger zukünftiger Vater seine schwangere Freundin tötet. In Ohio ist man mit sechzehn volljährig. Mary war fünfzehn. Wenn ihr Liebhaber ein erwachsener Mann war, hätte er wegen Unzucht mit einer Minderjährigen angeklagt werden können. Aber reicht das als Motiv, eine ganze Familie auszulöschen? Ich kann es einfach nicht glauben.
Und welche Rolle spielt die Folter bei diesem Verbrechen? Die Frage macht mir klar, dass ich etwas ganz Wesentliches einfach nicht sehe. Dass eine mögliche Anklage wegen Unzucht mit einer Minderjährigen
nicht
als Motiv für die Liquidierung einer ganzen Familie reicht. Genauso wenig, wie es die grausame Verstümmelung der beiden jungen Mädchen erklärt. Irgendetwas übersehe ich, etwas wahrhaft Böses. Doch was? Es ist wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber einfach nicht einfallen will.
Ich gehe in Gedanken zurück zum Tatort in der Scheune, taste mich durch die Dunkelheit zur Sattelkammer, sehe die beiden Mädchen aufgehängt wie graueneinflößende Marionetten, die Werkzeuge, die der Mörder zurückgelassen hat. Und verharre jäh bei den Markierungen in dem staubigen Boden, konzentriere mich wie gebannt auf die drei kleinen Zeichen und weiß, dass sie eine Bedeutung haben. Aber ich weiß nicht, welche.
Auf diese Frage habe ich keine Antwort, und sie nagt noch immer an mir, als ich Marys Schlafzimmer betrete. Es ist klein, mit einer Kommode, einem Nachttisch und zwei schmalen Betten mit kunstvollen Quilts. Ein schlichtes Kleid und zwei
Kappen
hängen an einem Holzpflock an der Wand zwischen den Betten.
Die Chance, im Dunkeln etwas Nützliches zu finden, ist gering. Außerdem wurde alles schon gründlich durchsucht. Andererseits haben sich die Leute von der Spurensicherung auf das Elternschlafzimmer, das Wohnzimmer und die Küche konzentriert. Niemand hat von Marys Schwangerschaft gewusst, und ich frage mich:
Wie sorgfältig wurde ihr Zimmer durchsucht?
Ich gehe zum Fenster, schiebe die Gardinen beiseite und blicke hinaus. Es regnet jetzt so heftig, dass das Wasser in Strömen an den Scheiben hinunterrinnt. Von der Dachgaube aus kann man auf das Blechdach der vorderen Veranda klettern, und da ich selbst kein gehorsamer Teenager war, sehe ich sofort, wie einfach es ist, sich von hier aus wegzuschleichen. Ich überprüfe den Fensterriegel, er ist intakt. Aber als ich auf das Fensterbrett leuchte, sehe ich entsetzt, dass das Fenster zugenagelt ist. Man kann es nicht mehr hochschieben. Hatte jemand versucht, bei Mary einzusteigen? Oder wollte ihr Vater verhindern, dass seine Tochter sich heimlich fortschleicht? Was auch immer die Antwort ist, jedenfalls wussten die Eltern, dass etwas vor sich ging.
Da die Spurensicherung den Generator wieder mitgenommen hat, gehe ich nach unten und hole mir das batteriebetriebene Arbeitslicht, schleppe es die Treppe hinauf und stelle es auf Marys Kommode. Ich ziehe Latexhandschuhe an und beginne mit Marys Nachttisch, finde in der oberen Schublade zwei Bibeln und einen uralten Wälzer mit dem Titel
Märtyrerspiegel
, eine Dokumentation der Leiden, die den verfolgten europäischen Wiedertäufern während der Reformationszeit angetan wurden. In der Schublade darunter liegen
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