Blutige Stille. Thriller
eine Haarbürste, ein Kamm und eine
Kappe
, die ausgebessert werden muss. Beim Anblick des Spiegels muss ich lächeln. Junge amische Mädchen sind genauso eitel wie andere Teenager. In manchen konservativen amischen Familien sind Spiegel verboten, und ich frage mich, ob Marys Eltern wussten, dass sie einen besaß.
Der Nachttisch enthält weiter nichts Interessantes, so dass ich mich der Kommode zuwende, wo ich zerrissene Jungenhosen finde, die geflickt werden müssen. Unterwäsche. Ein Baseball und ein abgegriffener Baseballhandschuh in der unteren Schublade.
»Wo hast du deine Geheimnisse aufbewahrt?«, frage ich laut.
Meine Teenagerjahre liegen schon lange zurück, doch ich weiß noch genau, wie ich mich damals gefühlt habe. Die Unbeholfenheit und plötzliche Sehnsucht nach Dingen, die mir zum großen Teil für immer verwehrt sein würden. Wie Mary, hatte auch ich Geheimnisse, und diese Geheimnisse verursachten mir furchtbare Qualen. Man fühlt sich unendlich einsam, wenn man die Liebe und Unterstützung der Familie braucht und gleichzeitig glaubt, sie nicht verdient zu haben.
Ich gehe zum Bett, dessen Decke zurückgeschlagen und zerwühlt ist. Eine gesichtslose Puppe mit blonden Locken liegt mit dem Gesicht nach unten neben dem Kopfkissen. Ob Mary sie weggestoßen hat, als der Mörder sie zwang aufzustehen? Ich nehme die Puppe in die Hand, und eine große Traurigkeit erfasst mich. Amische Pupen sind immer gesichtslos, weil in der Bibel – in Exodus und Deuteronomium, dem fünften Buch Mose im Alten Testament – Götzenbilder verboten sind.
Ich lehne die Puppe ans Kissen, hebe die Matratze an der Seite hoch und taste darunter entlang, finde nichts. Auch im zweiten Bett suche ich vergeblich. Frustriert gestehe ich mir ein, dass ich wahrscheinlich meine Zeit verschwende, knie mich aber trotzdem hin und hebe den Quilt an, um unter das Bett zu sehen. Der Strahl meiner Lampe findet eine einsame Socke inmitten von Wollmäusen groß wie meine Faust. Ich will mich gerade wieder aufrichten, als mir ein Dielenbrett auffällt, das ein winziges Stück höher liegt als die anderen.
»Was ist das denn?« Ich strecke die Hand aus, um das Brett mit den Fingern anzuheben, was zu meiner Überraschung ganz leicht geht. Mit der Schulter schiebe ich das Bett ein Stück weg, und mein Puls fängt an zu rasen, als mein Blick auf das Versteck fällt – und das kleine Heft darin. Ich sollte ein Foto machen, bevor ich es anfasse, habe aber keinen Apparat dabei und will nicht warten. Also nehme ich es heraus.
Das Heft ist handgemacht, fünfzehn Zentimeter im Quadrat und zweieinhalb Zentimeter dick. Die Vorder- und Rückseite sind aus rosa Bastelpapier. Auf die Vorderseite ist ein dicker Filzstreifen aus einem kontrastierenden Pink geklebt, mit einem aus weißer Spitze ausgeschnittenen Schaf darauf. Durch die drei Löcher am linken Rand sind rosa Bänder gefädelt und zu Schleifen gebunden, um es zusammenzuhalten. Das Heft ist sehr liebevoll und sorgsam gefertigt, wobei viel Wert auf Details gelegt wurde.
Ich schlage es auf. Die Seiten stammen aus einem Heft mit liniertem Papier, so wie jedes Schulkind es besitzt, und sind sorgfältig zugeschnitten, damit sie genau passen. Auf der ersten Seite steht in blauer Tinte kursiv geschrieben
Marys Tagebuch
. Ich blättere weiter und lese.
19. Mai
Ich habe IHN heute im Laden gesehen, als Mamm und ich gerade die Quilts hingebracht haben. Mein Herz hat so heftig geschlagen, dass ich dachte, ich falle in Ohnmacht. Meine Beine haben so schlimm gezittert, dass Mamm mich fragte, ob mir kalt sei. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Er ist kein Amischer, ich sollte solche Gefühle nicht haben …
24. Mai
Heute hat er mich angesprochen. Nur begrüßt, aber das hat mein armes Herz ja nicht gewusst. Ich konnte ihn nicht ansehen. Mamm und ich haben den zweiten Quilt hingebracht (den grünen für Babys, der mir so gut gefällt). Ich finde es ganz furchtbar, dass er jetzt weg ist. Es war, als würde ich mein eigenes Kind weggeben! Aber ich weiß, dass eine gute Mutter ihm ein schönes Zuhause geben wird und ihr geliebtes Baby darin einwickelt.
29. Mai
Heute Morgen habe ich angeboten zu helfen, Süßigkeiten in die Regale zu räumen. Nicht wegen dem Geld, sondern weil ich eine Mittagspause machen darf, wenn ich über sechs Stunden arbeite. Ich werde in den Park gehen, denn ich weiß, dass er auch da ist. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen. Ich weiß, dass meine Gefühle
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