Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
dieser Angriff abgelaufen war. Darren hätte mich zu Brei geschlagen, hätte er es wirklich ernst gemeint. Doch mit ein bisschen Glück und einer Handvoll Schmerztabletten würde ich den Tag schon überstehen.
Während ich noch meine Prellungen kühlte, erreichte mich eine SMS von Hari, der mir riet, zu Hause zu bleiben. Doch ich löschte seine Nachricht und setzte mich mühsam wieder auf. Hari kannte mich seit Jahren, doch er hatte offenbar noch immer nicht verstanden, dass es für mich eine Strafe wäre, krankzufeiern. Dass ich lieber barfuß über glühend heiße Kohlen laufen würde, als faul auf der Couch zu liegen und gemütlich fernzusehen. Ich ging in die Küche und ließ den Gefrierbeutel dort in die Spüle fallen. Durch die Wand des Nachbarzimmers hörte ich, dass auch mein Bruder bereits aufgestanden war. Auch das war eindeutig ein Grund, arbeiten zu gehen. Weil ich das grüblerische Schweigen, mit dem er wahrscheinlich wieder einmal aus dem Fenster starrte, einfach nicht ertrug. Obwohl er es mir niemals vorgehalten hatte, war ich schuld an den Verletzungen, die er davongetragen hatte, als er aus zehn Metern Höhe auf den Bürgersteig gefallen war. Seine Beine waren dabei zerschmettert worden, und es war eigentlich kaum überraschend, dass er wegen des erlittenen Traumas noch mehr Drogen nahm.
In der Klinik wartete eine kleine Gruppe von Patienten vor der Tür meines Beratungszimmers. Ein paar von ihnen hatte die Bewährungshilfe mir geschickt, andere waren von ihrem Hausarzt überwiesen, doch sie alle saßen aus demselben Grund vor meiner Tür. Sie kämpften ausnahmslos verzweifelt gegen ihre Aggressionen an. Als ich ihnen offenbarte, dass es keine Sitzungen mehr gäbe, reagierten einige entrüstet, andere resigniert. Doch so schwer es mir auch fiel, diesen Menschen einfach Lebewohl zu sagen, hatte ich doch wenigstens noch die Gelegenheit dazu gehabt. Anders als bei meinen anderen Gruppen. Deren Sitzungen hatte die Klinik einfach schriftlich abgesagt.
Ich ging wieder aus dem Haus, denn wenn ich selber Aggressionen hegte, tat mir Bewegung normalerweise gut. Vielleicht bekäme ich ja wieder einen klaren Kopf, wenn ich etwas spazieren ginge, doch die Hitze machte einem sogar morgens schon das Atmen schwer. Offenkundig hielten sich die Gärtner unseres Krankenhauses an das offizielle Sprengverbot, denn die Rosen ließen ihre Köpfe hängen, und der dürre braune Rasen hatte eindeutig bereits seit Wochen keinen Tropfen Wasser mehr gesehen.
Bei meiner Rückkehr fragte ich eine der Frauen am Empfang, ob Darren zu seinem Termin erschienen war.
»Ich fürchte, nein«, erklärte sie entschuldigend, als hätte sie persönlich ihn daran gehindert, zu Hari hinaufzugehen.
Kochend vor Zorn und mit schmerzenden Rippen stapfte ich durchs Treppenhaus zurück in mein Büro. Nachdem Darren nicht erschienen war, tat mir meine Reaktion auf seinen Angriff plötzlich leid. Ich hätte ihn verhaften lassen sollen. Mühsam zwang ich mich zur Ruhe und rief den ersten Patienten auf.
Bis zum Abend herrschte eine fast tropische Hitze in meinem Beratungszimmer, und das köstliche Fensterblatt auf meinem Schreibtisch welkte vor sich hin. Auch der bis zum Anschlag aufgedrehte Ventilator nützte nichts, da er die abgestandene Luft nur von einer Seite auf die andere schob. Normalerweise wäre ich in meine Laufschuhe gestiegen und über die Hintertreppe aus dem Haus gesprintet, aber heute war das Beste, was ich mir erhoffen konnte, ein gemächlicher Spaziergang durch die brütend heiße Stadt. Langsam ging ich durch die Eingangshalle, in der abgesehen von ein paar Besuchern, die mit Zeitschriften und Blumen kamen, und den letzten Schwestern, die nach Ende ihrer Tagschicht Richtung U-Bahn liefen, niemand war.
Pendler strömten aus der U-Bahn-Station London Bridge und zogen im Gehen Jacketts, Krawatten, Strickjacken und alles andere, was sie nicht mehr brauchten, aus. Mir blieb nichts anderes übrig, als allen hinterherzuhinken, denn bei jedem Schritt zuckte ein stechender Schmerz durch meine Brust. Am Ufer der Themse ließ ich mich ermattet auf eine Bank sinken, denn ein Trupp Touristen hatte sich über den gesamten Bürgersteig verteilt. Aber schließlich bot sich auch die Tower Bridge als Hintergrund für Urlaubsfotos an.
Für den letzten halben Kilometer brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit. Ich schleppte mich über den Uferweg an der New Concordia Wharf, und als ich endlich den Providence Square erreicht hatte, wollte ich nur
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