Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
neugierige Blicke zu. Ich lief an Lorraine Brothertons halboffener Tür vorbei und sah, dass sie in einem dunkelgrauen Kleid, das zu den Wolken draußen passte, hinter ihrem Schreibtisch saß. Zum Glück entdeckte sie mich nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den Inhalt ihrer Aktenschränke zu durchforsten, um mich zu sich zu zitieren und mir eine Strafpredigt zu halten, weil ich so eigenmächtig vorgegangen war. Ohne Zweifel sehnte sie sich danach, wieder in ihrer gewohnten Anonymität versinken zu können, wenn die allgemeine Aufregung ein wenig abgeklungen war. Wahrscheinlich hatte sie schon einen Platz auf einer Autofähre Richtung St. Malo gebucht.
Zur Abwechslung wurde ich von den Journalisten vor der Wache einmal völlig ignoriert. Sie waren ausnahmslos damit beschäftigt, aufzunehmen, wie Dean Simons sich seiner Verhaftung widersetzte und sich lautstark über angebliche Polizeiwillkür beschwerte, während ein Beamtenduo ihn über die Treppe Richtung Eingang zog.
Ich machte einen Bogen um die Meute, stieg in meinen Wagen und lehnte mich aufatmend zurück. Trotz des morgendlichen Berufsverkehrs, der an mir vorüberrauschte, war ich aus dem Zustand künstlicher Ruhe noch nicht wieder aufgetaucht. Genauso mussten Sophies Opfer sich vor ihrem Tod gefühlt haben, während sie auf einem Meer aus Rohypnol dahintrieben.
Doch kaum legte ich meine Hände auf das Lenkrad, tauchte ich aus der Betäubung auf. Das Rauschen des Verkehrs war irgendwie beruhigend, und erfüllt von neuer Energie, ließ ich den Motor an.
Die Routine machte mir das Autofahren so leicht, als ob ich durch die Gegend lief. Ich brauchte nur gelegentlich zu schalten und würde mit Glück niemanden über den Haufen fahren, solange ich mich auf meinen Instinkt verließ.
Anfangs fuhr ich ziellos herum, denn obwohl ich mich nach einer heißen Dusche sehnte, war ich irgendwie noch nicht bereit, gleich nach Hause zu fahren. Erst mal musste ich meiner Erinnerung an alles, was geschehen war, entfliehen.
Als ich den Regent’s Park erreichte, merkte ich, dass er gar nicht mein eigentliches Ziel gewesen war. Die Wege waren praktisch menschenleer, denn bei dem anhaltenden dichten Regen wagten sich nicht einmal die größten Lauf-Fanantiker vor die Tür.
Ich brauchte weniger als eine halbe Stunde, bis ich wieder in der City war. Ich parkte meinen Wagen in der Lombard Street, wühlte auf dem Rücksitz, bis ich meinen Regenmantel fand, und knöpfte ihn bis oben zu, damit niemand meine blutbespritzten Kleider sah. Ich fühlte mich zu schwach, um die Treppe zu benutzen, und das stellte mich vor ein Problem. Doch zumindest setzte der Portier ein beruhigendes Lächeln auf, als ich auf den Glasboden des Fahrstuhls trat. Die ersten Augenblicke waren die schlimmsten, denn ich hörte, wie die Tür sich leise klickend schloss, und wusste, für eine Flucht war es zu spät. Aber es ist richtig, wenn die Aversionstherapeuten behaupten, dass Ausweichen auf Dauer keine Lösung ist. Eine Phobie lässt sich nur dadurch überwinden, dass man zwar die Angst verspürt, eine Sache aber trotzdem macht. Dementsprechend zwang ich mich, nicht den Atem anzuhalten, während ich die Stockwerke an mir vorüberziehen sah.
Zum Glück stand vor der Tür von Andrews Wohnung nur ein junger Polizist, der seinem Aussehen nach frisch von der Polizeischule gekommen war.
» DI Burns hat mich geschickt«, erklärte ich ihm dreist. »Bitte lassen Sie mich rein.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Ich hielt ihm meinen Dienstausweis vom Krankenhaus unter die Nase, und sofort schloss er mir auf. Er war noch derart unbedarft, wahrscheinlich hätte es gereicht, wenn ich ihm einen alten Lottoschein gezeigt hätte.
Die Wohnung sah vollkommen unverändert aus. Noch immer hingen an den Flurwänden die riesigen Schwarzweiß-Aufnahmen der dichtgedrängten Wolkenkratzer, die aussahen wie Kinder, die in einer Reihe standen, um zu sehen, wer der Größte war. Sicher hatte Stephen Rayner die Fotos gemacht. Sie hatten dieselbe scharfkantige Schönheit wie die Landschaftsaufnahmen in seiner Wohnung, und ich fragte mich, wie er damit zurechtkam, dass seine Kollegen von der Bank durch seine Schnappschüsse zum Tod verurteilt worden waren.
Ich wühlte in Andrews Küchenschränken, bis ich eine Whiskeyflasche fand, und genehmigte mir einen Schluck. Während mir der Alkohol den Hals verbrannte, trat ich vor das Panoramafenster und blickte hinunter auf die Stadt. Trotz des anhaltenden Regens gingen die
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