Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Job.«
»Irgendwer bestimmt. Sie müssen sich nur weiter darum bemühen.«
Nach ein paar Minuten hatte er sich offenbar etwas beruhigt und wartete schweigend ab, während ich ihm kurzfristig einen Termin bei meinem Vorgesetzten machte. Hari hatte nämlich das Talent, selbst der schlimmsten Aggression die Spitze zu nehmen und dafür zu sorgen, dass das Leben des Betroffenen in ruhigeres Fahrwasser geriet. Darren umklammerte den Zettel mit der Uhrzeit, doch sein Blick war trüb geworden, so, als könnte er mich nicht mehr deutlich sehen. Als ich in den Fahrstuhl stieg und über meine Schulter blickte, starrte er mich weiter reglos an.
Am liebsten hätte ich mein Hemd gelüftet, um mir meinen lädierten Brustkorb anzusehen, aber eine Gruppe Krankenschwestern, die sich fröhlich miteinander unterhielten, war mir in den Lift gefolgt. Meine Rippen taten mir am meisten weh. Sobald ich Luft holte, durchzuckte mich ein glühend heißer Schmerz, doch nach Hause gehen konnte ich auf keinen Fall. Ich hatte bis zum Abend im Dreiviertel-Stunden-Takt Patienten, die fast ausnahmslos seit Monaten auf den Termin gewartet hatten, deshalb saß ich hier erst mal fest.
Die abgestandene Luft in meinem Beratungszimmer roch nach Putzmittel und Staub. Die Klimaanlage versagte schon seit Tagen ihren Dienst, doch der Wartungstrupp war immer noch im Streik. Ich öffnete das Fenster und versuchte möglichst ruhig zu atmen. Sechzig Meter unter mir glitzerte die Stadt. Die Themse wirkt wie ein dunkelbraunes Band, das Süd und Nord verband. Es war kaum zu glauben, dass die City, deren rundherum verspiegelte Gebäude trotz des Hitzeschleiers, der über den Straßen hing, das Sonnenlicht in meine Richtung warfen, praktisch pleite war. Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Beinahe das gesamte Mobiliar hätte schon vor Jahren auf den Sperrmüll wandern sollen, und mein Computer hatte es sich angewöhnt, mir Informationen nur zu geben, wenn ihm danach war. Ich dachte, dass ein anderer Mensch wahrscheinlich längst in Tränen ausgebrochen wäre, weil sich so der Schock über den Angriff schnellstmöglich entlud, und empfand einen gewissen Neid. Meine Emotionen waren immer noch so unberechenbar wie mein Computer. Die kaputten Anschlüsse und Unterbrechungen im Schaltkreis waren immer noch nicht repariert. Zähneknirschend rief ich den ersten Patienten auf.
Gegen elf trat Hari durch die Tür. Mit seinem ordentlich gestutzten Bart und seinem makellosen safrangelben Turban verströmte er wie stets die Aura völliger Gelassenheit, bedachte mich jedoch mit einem sorgenvollen Blick.
»Warum bist du hier? Du solltest nach Hause gehen.«
»Ich bin in Ordnung, wirklich.«
»Niemand ist unzerstörbar, Alice.«
Mir war klar, er dachte daran, wie es mir im Crossbones-Fall ergangen war. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, er sollte endlich aufhören, ein solches Aufheben darum zu machen, aber gegen seine Freundlichkeit kam ich einfach nicht an.
»Kann ich dir etwas bringen?«, fragte er.
»Geld für meine Therapiegruppen. Wenn es in Zukunft nicht zu noch viel mehr Verletzten kommen soll.«
Hari sah verlegen aus. »Der Verwaltungsrat hört nicht auf mich. Deshalb habe ich der BPS auch schon einen Beschwerdebrief geschickt.«
Ich lächelte ironisch. Weil die British Psychological Society, der landesweite Psychologenbund, schließlich nicht über die Ausgaben entschied. Hari tätschelte mir aufmunternd die Hand und flüchtete dann wieder in sein eigenes Büro.
Bis meine letzte Patientin kam, hatten mich die Schmerzmittel und der fehlende Sauerstoff in eine Art Rauschzustand versetzt. Trotzdem brauchte ich nicht lange, um zu sehen, dass ihre Sozialphobie bereits weit fortgeschritten war. Sie hatte Angst vor allem und vor jedem – Partys, Fremden, Menschenmengen jeder Art. Am liebsten hätte sie sich bis ans Lebensende irgendwo in einem leeren Zimmer eingesperrt, wo sie für alle anderen Menschen unerreichbar war. Trotzdem machte mir die Sitzung wieder einmal deutlich, dass ich wirklich gerne Psychologin war. Denn die Ängste der Patientin ließen bereits nach, während sie laut darüber sprach, und am Ende der Sitzung sah sie regelrecht erleichtert aus. Mir war klar, sie würde gut auf eine rational emotive Therapie ansprechen, denn sie wollte Techniken erlernen, um mit ihrem Leiden umzugehen. Ich erklärte ihr, sie würde zwischen zehn und zwölf Sitzungen brauchen, und empfahl ihr zusätzlich Yoga oder Tai-Chi. Trotzdem wirkte sie noch ängstlich, als
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