Blutiger Halloween
auch den Sarg nicht aus, den er mit einem dunklen Muster bedeckte. Die Gestalt trat näher.
Sie ging nur auf Zehenspitzen, als wollte sie die Ruhe eines Toten nicht stören. Als sie den Raum weit genug betreten hatte, konnte sie die Tür wieder zudrücken.
Nun drang kein Licht mehr nach draußen. Höchstens ein fahler Schein unter der Türritze. Der wurde von keinem gesehen, denn wer verirrte sich schon in dieses Verlies?
Die Gestalt trat so nahe an den Sarg heran, daß sie ihn mit den Schienbeinen fast berührte. Dann stellte sie die Kerze auf den Boden, streckte die Arme aus und begann den Sarg zu streicheln. Die schabenden Geräusche wirkten wie ein Lockmittel für die in der Totenkiste liegende Person.
»Ja!« flüsterte die Gestalt. »Ja, es ist soweit. Deine Zeit ist angebrochen. In dieser Nacht wird das Grauen umgehen. Halloween, die Nacht des Schreckens. Du hast lange genug warten müssen, nun erlöse ich dich aus deinem Schlaf…« Ein seltsames Kichern folgte den Worten, und die Hände wanderten weiter.
Sie glitten an den Seiten des weißen Sarges entlang bis sie die Verschlüsse gefunden hatten. Für einen Moment verharrten sie unbeweglich. Selbst die Finger zitterten nicht. Dann faßten sie zu und zogen die Verschlüsse in die Höhe.
Das leise Schnacken unterbrach die Stille. Der Rest war nur eine Kleinigkeit, denn der Sargdeckel mußte noch angehoben werden. Für einen Moment tauchte die Gestalt in den Schein der Kerze. Das Gesicht sah seltsam verzerrt aus, zudem geisterte ein Spiel aus Hell und Dunkel darüber hinweg.
Ein Ruck!
Es entstand ein saugendes Geräusch, als sich der Deckel von seinem Unterteil löste. Jetzt war der Sarg offen!
Die Gestalt griff nach rechts, bekam den Teller zu fassen und stellte ihn so, daß das Kerzenlicht die unmittelbare Umgebung der weißen Totenkiste beleuchtete.
Der Sarg war besetzt!
Für einen Moment herrschte tiefe Stille, auch die Gestalt hielt den Atem an, als sie in die Totenkiste schaute. Dort lag sie! Ein Kind, ein Mädchen!
Angela!
Die Gestalt beugte ihren Oberkörper noch weiter hinunter, damit sie genau in das Gesicht der Toten schauen konnte.
Wie lange weilte Angela nicht mehr unter den Lebenden? Sechs Jahre waren es inzwischen. Ihr Körper hätte längst verfault sein müssen, das Leichenhemd zerfetzt und zerrissen, aber das war nicht der Fall. Die Leiche zeigte beim ersten Hinsehen keinerlei Veränderungen. Zart strichen die Finger der Gestalt über das Gesicht des toten Mädchens. Sie streichelten, fuhren die Linien der schmalen Nase nach und vergaßen auch die blassen Lippen nicht.
Die Tote hielt die Augen geschlossen, die Hände waren auf der Brust zusammengelegt. Nicht gefaltet…
Kein christliches Zeichen oder Symbol durfte die Ruhe dieser Toten stören.
Und die Hände der Gestalt wanderten weiter. Sie glitten über die Arme der Toten und erreichten die Finger und hoben sie an. Es hatte sich etwas verändert!
Die Nägel der Toten waren weitergewachsen. Lang und spitz stachen sie hervor. Die Gestalt hob den rechten Arm der Leiche hoch, so daß die Hand am Gelenk einknickte. Nun wiesen die Nägel nach unten. Wie kleine Messer fuhren sie über den Handteller, verursachten ein kratzendes Geräusch, und die unbekannte Person begann zu flüstern.
»Angela«, wisperte sie. »Angela, hörst du mich? Du bist nicht tot, ich weiß es. Dein Geist konnte nicht eingehen in die Sphären des Niemandslandes. Du lebst, Angela, du sollst leben und deine Rache vollenden. Sie alle sind gekommen. Sie alle wollen feiern. Halloween, das Fest des Schreckens. Sie freuen sich darauf, doch für dich wird es ein blutiges Fest werden. Sorge du dafür, meine Kleine. Ich habe alles getan, was ich tun konnte, und ich werde dir den Weg zeigen, dich unterstützen, damit all die umkommen, die dich damals so grausam gefoltert haben. Hörst du mich, kleine Angela…?«
Nach diesen Worten zog sich die Gestalt insofern zurück, daß sie sich aufrichtete und nun von oben her auf das tote Kind schaute, um dessen Reaktion genau beobachten zu können.
Das Gesicht wirkte im Schein der Kerze seltsam rötlich. Eine unnatürliche Farbe, die die Leichenblässe überdeckte. Schatten tanzten auf der Stirn wie Fremdkörper, glitten über die Augen, den Mund und verliefen sich am Hals des toten Kindes.
Der Eindringling wartete ab. Er selbst atmete flach, nichts sollte mehr stören, denn nun kam es darauf an. Sechs Jahre waren vergangen, und sechs Schüler hatten Angela damals zu
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