Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
dann war ich mir sicher. Du bist vielleicht zwölf Jahre jünger als jetzt. Alessio war noch klein.«
Über seine Züge legte sich eine Eisschicht. Leonie sah, wie er seine Dämonen mühsam im Zaum hielt. Vergeblich versuchte sie, sich aus seiner Umarmung zu befreien.
»Was hast du mit Laura Cortese und Alessio zu tun?« Jetzt ließ er sie los und legte zwei zusammengelegte Finger auf ihre Wange, Finger, die lange nicht so eisig waren wie ihre eigenen. Trotzdem erschauerte sie unter der Berührung.
Sie zuckte die Schultern. »Ich kenne sie nur beiläufig. Zufällig habe ich Laura gestern das Leben gerettet. Und Alessio – der ist ja schon eine ganze Weile verschwunden.«
»Wir sind verwandt«, sagte er nachdenklich und schaute über sie hinweg in die Ferne. »Interessiert es dich, wo er steckt?«
Als sie nickte, legte sich seine Hand um ihr Handgelenk. »Ich kann dich zu ihm bringen«, sagte er sanft.
53.
Sie stand in der Tür und sah sich mit großen Augen um. Ihre Hand lag in der Nackenfalte des Schäferhunds, der ihr auch im Schlossgarten nicht von der Seite gewichen war. Sonderbar, dass die Kollegen im Erdgeschoss dem Hund erlaubt hatten, sie zu begleiten.
»Komm rein!« Keller bot dem Mädchen einen Stuhl an, als sei ihre Gegenwart genau das, was er an diesem Dienstagnachmittag erwartet hatte. Fabian sah, wie sie sich zusammenriss und einen Schritt über die Schwelle tat. Sie trug zerrissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das ihr über die mageren Schultern fiel. Bis auf ihre blauen Haare und die Piercings sah sie fast normal aus.
»Wir beißen nicht«, sagte Fabian und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Möchtest du etwas trinken?«
Als sie nickte, machte er sich in Richtung Küche auf und holte zum zweiten Mal an diesem Tag die Flasche Apfelsaft von den Esslinger Streuobstwiesen aus dem Kühlschrank. Was die Bewirtung von Zeugen anging, hätte er auch Kellner werden können.
»Apfelsaft?«
Sie nickte. Er goss dem Mädchen ein Glas voll ein und öffnete eine Flasche Mineralwasser für Keller und sich selbst. Der Hund hatte sich mit resigniertem Blick unter Kellers Schreibtisch gelegt, den Kopf auf den ausgestreckten Pfoten.
»Wie war noch mal dein Name?«, fragte Keller.
Sie schluckte und riss sich zusammen. »Ich heiße Blue«, sagte sie heiser. »Und das da ist Ronja.«
»Und weiter?«
»Ronja hat keinen Nachnamen.«
»Und du?«
Sie hörten die Stille leise tropfen wie einen lecken Wasserhahn.
»Ich heiße Melissa Wiberg«, wisperte sie.
»Okay«, sagte Keller langsam.
Wovor hatte sie so schreckliche Angst? Fabian schaute in dunkle Augen, die zu viel gesehen hatten. Unwillkürlich dachte er an die Kinder in Mischas Wohnung. »Hast du etwas von Alessio gehört?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wir, ich, die Gruppe …«
»Ihr habt uns am letzten Montag nicht die volle Wahrheit gesagt«, vollendete Keller.
Blue wurde flammend rot. »Das konnten wir nicht«, sagte sie. »Wir mussten ihn schützen.«
Wahrscheinlich waren die Straßenkinder die erste einigermaßen verlässliche Gemeinschaft, die Blue kennengelernt hatte. Man verriet sich nicht in diesen Kreisen. Außer man war auf Crystal oder Crack und brauchte das Geld für den Stoff dringender, als die Solidarität unter denen, die ganz unten waren.
»Und warum bist du jetzt doch gekommen?«, fragte Keller ruhig.
Das Mädchen gab sich einen Ruck. »Unten steht Ronald, Ron, der Australier, der bei Robin Wood aktiv ist. Aus dem Camp der Parkschützer. Er wartet gemeinsam mit Henne auf mich. Er hat uns überzeugt, dass wir Alessio besser helfen, wenn wir verraten, was wirklich passiert ist.«
»So«, sagte Keller.
Blue fuhr fort. »Alessio ist mit ihm an diesem Nachmittag geklettert, bis ganz oben in eine der alten Platanen, die weg sollen. Und währenddessen ist der Typ gekommen.«
»Welcher Typ?«, fragte Fabian.
»Na dieser Typ, der uns in Mettingen auch schon verfolgt hat. Alessios Bruder Kain. Echt gruselig.«
Fabian erinnerte sich an das Gespräch mit Alberto Cortese. Alessio hatte einen Halbbruder, der in Corteses Familie integriert war. Wie lautete noch mal sein Name?
»Alessios Bruder heißt Corrado«, korrigierte er sie.
» Wer heißt schon in Wirklichkeit Kain, Mann?« Das Mädchen schaute ihn an, als sei er blöd. Und vielleicht lag sie damit gar nicht mal so falsch. »Das ist nur ein Spitzname.«
»Und was wollte dieser – Kain – von euch?« Keller trank einen Schluck
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