Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
sie per Handschlag.
»Sonst arbeiten wir hier zu zweit«, erklärte Keller. »Mein junger Kollege hat aber heute frei. Überstunden abfeiern.«
Zwei Schreibtische standen Rücken an Rücken. Kellers Arbeitsplatz war peinlich aufgeräumt, der seines Kollegen quoll über von Akten und Papieren, dazwischen lag sogar eine angebrochene Riesenschokolade, Noisette. Keller lächelte entschuldigend, als er ihren Blick bemerkte. »Nun, die jungen Leute …« Er lehnte sich zurück, faltete die Hände über dem Bauch und schaute sie nachdenklich an. »Um bei gestern Abend anzusetzen. Sie sagten ja, dass Ihnen im Bus nichts aufgefallen ist.«
»Er war so überfüllt, dass ich nicht auf die Gesichter geachtet habe. Und mein Sohn Leander war auch dabei. Er ist elf Monate alt.«
»Ganz klar. Der hält Sie auf Trab. Und der Täter hatte seine Schimpansenmaske ja auch nicht auf, an der Sie ihn hätten erkennen können.«
Leonie starrte ihn verunsichert an. Machte er sich über sie lustig?
»Es könnte fast jeder gewesen sein«, rechtfertigte sie sich. »Nun ja, vielleicht kann ich die Sekretärinnen in den High Heels ausschließen.«
»Und überhaupt jede Frau im Bus«, sagte Kommissar Keller. »Frau Deringer sprach von einem Mann.«
»Kinder gab es auch jede Menge«, ergänzte sie. »Ganze Horden von Schülern. Die überfallen sicher keine alten Damen.«
»Wobei man sich niemals sicher sein kann.« Der Kommissar stand auf und griff nach einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern, die umgedreht auf einem Tablett standen. »Möchten Sie auch? Es wird wieder ein heißer Tag.«
Als Leonie nickte, füllte er ein Glas und stellte es vor sie auf den Schreibtisch. Sie bedankte sich und begann, durstig zu trinken.
»Dass der Täter auch in der Größe einem Schimpansen geähnelt hat, hat Frau Deringer nicht gerade behauptet«, sagte der Kommissar.
»Frau Deringer kann sich an überhaupt nichts erinnern«, verbesserte ihn Leonie. Jetzt war sie sicher, dass er sich einen Spaß daraus machte, sie vorzuführen.
»An nichts Relevantes, genau wie Sie.« Der Kommissar schaute sie nachdenklich an. »Aber vielleicht haben Sie ja einen Bekannten gesehen, der als Zeuge in Frage kommt. Wir setzen die Anfrage noch in die Zeitung. Für gewöhnlich melden sich auf solche Aufrufe kaum Leute. Die haben Angst, es mit der Polizei zu tun zu bekommen.«
Plötzlich musste Leonie an den Jungen denken. Caravaggios Jungen, der ihr geholfen hatte, Leander zu hüten. Der war der Einzige, der ihr aufgefallen war. Oder doch nicht?
»Nun.« Sie räusperte sich. »Neben mir im Gang stand ein Geschäftsmann im Leinensakko. Vielleicht würde ich ihn wiedererkennen. Und auf dem Platz für Gehbehinderte saß eine ältere Frau mit Dauerwelle, die mich gefragt hat, ob ich kein Auto fahren könne. Ich glaube, ich habe sie in der Nachbarschaft von Frau Deringer schon einmal gesehen, Briefkästen putzen.«
Fritz Keller hatte sich einen Bleistift geholt und spitzte ihn langsam. Dann wandte er sich seinem Laptop zu und gab ihre Aussage mit einem flinken Zweifingersystem ins Schreibprogramm ein. Mager, dachte Leonie. Sie konnte so gut wie nichts zur Aufklärung des Falls beitragen. Der Räuber lief immer noch auf freiem Fuß herum und verprasste Frau Deringers Geld.
»Sie sind vor dem Opfer ausgestiegen?« Keller wandte sich ihr wieder zu.
Sie nickte. »Im Zentrum, weil ich noch zum Bäcker wollte.«
»Wir werden uns um die Leute kümmern, die mit ihr auf der Neckarhalde ausgestiegen sind.«
»Klar.« Sie erhob sich und wandte sich zur Tür. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.«
»Frau Hausmann, ganz kurz. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fotos zeigen von einigen Jugendlichen, die polizeilich wegen Gewalt- oder Diebstahldelikten aufgefallen sind. Kommen Sie bitte kurz auf meine Seite.«
Konzentriert bediente er die Maus und hatte die Datei schnell aufgerufen. »So, da sind sie, meine besonderen Früchtchen.« Er machte eine große Geste mit dem Arm, als würde er ihr eine Reihe Kandidaten für den Titel »Young Mister Esslingen« vorstellen. »Die Erfahrung zeigt, dass solche Taten gerne von sehr jungen Männern verübt werden. Aber die Mädels sind arg am Aufholen. Sie gründen jetzt auch mal hin und wieder eine Gang und werden rabiat. Sagen Sie mir einfach, ob Sie jemanden wiedererkennen. Wenn ich Sie Einsicht in meine ganze Kartei nehmen lassen würde, hätten Sie viel zu tun. Da sind nämlich fast zweitausend männliche Jugendliche
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