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Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)

Titel: Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Kern
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ihnen lag die Kante des Bahnsteigs, von der es steil bergab auf die Schienen ging.
    »Verdammt!« Fabian polterte die Treppe herunter und rannte mit langen Sätzen über den Bahnsteig. »Aufhören!«
    Leonie folgte ihm, so schnell sie konnte, und stand am Fuß der Treppe, als Fabian die Jungen beinahe erreicht hatte. Inzwischen war es Alessio gelungen, den anderen, der ihn um einen halben Kopf überragte, abzuschütteln, indem er ihm mehrmals kräftig gegen das Schienbein trat. Plötzlich sackte der Junge in die Knie. Alessio stieß ihn in die Nieren und schlug ihm mit der Faust gegen die Schläfe. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und verschwand so plötzlich über der Kante, als hätte es ihn nie gegeben. Leere, ein blinder Fleck in ihrem Sichtfeld! Leonie schrie auf.
    Ohne Zögern sprang Fabian auf die Gleise. Sie rannte die letzten Meter bis zur Unfallstelle und drängte sich durch die Menschenmenge, die von der Kante aus tatenlos nach unten starrte, wo der fremde Junge seltsam verkrümmt mit dem Gesicht auf den Schienen lag. Aus einer Wunde an seinem Hinterkopf sickerte Blut in den Schotter. Fabian kniete neben ihm und suchte die Schlagader an seinem Hals. Leonie stand da wie betäubt, genauso schweigend wie die Passanten neben ihr, von denen keiner sich rührte. Ein Kind begann zu weinen.
    »Ruf die 112 an!«, schrie Fabian, und sie begann, mit zitternden Händen nach ihrem Handy zu kramen. Eine Packung Tempotücher, Leanders noch immer nicht ausgekochter Silikonschnuller, Lipgloss, Traubenzuckerbonbons. Wo steckte es nur?
    »He, Leandros Mutter!«
    Leonie drehte sich um, ihre überfüllte Handtasche an die Brust gedrückt. Alessio stand mit hängenden Armen am Rand des Bahnsteigs, verloren, abgerissen und verzweifelt, als hätte er die ganze Zeit auf der Straße gelebt. Er nickte ihr noch einmal zu und rannte dann davon wie ein Hase. Leonie schluckte. Endlich hatte sie das Handy in den Fingern und holte es aus ihrer Tasche.
    »U9 nach Botnang fährt ein«, sagte die seit Jahrzehnten gleiche Automatenstimme, und das Handy fiel klirrend auf den Bahnsteig. Denn Fabian kniete noch immer neben dem bewusstlosen Jungen auf den Schienen.
    Dort hinten war ein dunkles Loch, der Eingang zur Unterwelt, in dem das leise Sirren der einfahrenden Stadtbahn immer lauter wurde. Und dann war sie da, helle Lichter stachen Leonie in die Augen. Sie schlug die Hände vor den Mund, konnte nicht einmal mehr schreien. Da vorn stand der Lokführer in seinem hell erleuchteten Fahrerstand. Fabian richtete sich auf, sprang zehn Schritte vor in Richtung der einfahrenden Bahn und breitete die Arme aus wie ein Gekreuzigter. Das Ungetüm bremste, träge Masse, Tonnen von Stahl, Glas und Kunststoff, die sich viel zu langsam bewegten. Unmittelbar vor ihm kam die Bahn mit einem ohrenbetäubenden Kreischen zum Stehen.

14.
    So schnell er konnte, lief Alessio aus der Unterführung hinaus ans Licht. Er rannte die Allee hinunter in den weniger belebten Teil des Schlossgartens, der schon fast in Bad Cannstatt lag. Irgendwo vor ihm mussten der Neckar und die Mineralbäder sein. Auf den Wiesen standen einzelne Bäume wie Riesen. Er traf nur noch wenige Spaziergänger, ältere Damen mit Hund oder engumschlungene Pärchen, die ihm verblüfft nachschauten, weil er es so eilig hatte. Hin und wieder überholte er einen trägen Jogger mit Headset oder sprang zur Seite, wenn ihn ein Radfahrer mit seiner Klingel rüde zurechtwies. Laufen konnte er lange, darin war er so gut, dass Herr Wessler aus der Schule ihn am liebsten im Leichtathletikverein angemeldet hätte. Aber er wollte seine Mutter Laura nicht mit dem Alten alleinlassen, der immer, wenn er gesoffen hatte, zum unberechenbaren Schläger wurde. Alessio rannte und rannte, leerte seinen Kopf von überflüssigen Gedanken. Doch schließlich machte sich die Erschöpfung bemerkbar, die seit dem Handtaschenraub immer häufiger nach ihm griff, und dass er seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte. Ihm wurde schwarz vor Augen, seine Umgebung drehte sich, als säße er auf einem Kettenkarussell. Er fiel ins Schritttempo und legte die Hände auf seine Knie. Langsam, indem er tief atmete, kam die Welt zum Stehen.
    Nick war tot. Er hatte das dunkelrote Blut gesehen, das auf die Gleise gelaufen war.
    Als dieser Gedanke in sein Bewusstsein gedrungen war, wurde ihm der Hauptweg zu heiß. Wie schnell würden die Bullen seine Spur aufnehmen? Er bog nach links auf die Wiese ab und rannte auf eine

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