Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
habe kein ›Was‹ gesucht, sondern einen ›Wen‹. Und jetzt weiß ich auch, wo er steckt.«
»Und wer ist das?«
Er blieb stehen und richtete den Blick seiner braunen Augen abschätzend auf sie.
»Den Jungen, der im Bus neben dir gesessen hat«, sagte er leise. »Alessio Cortese.«
13.
»Heißt er so?«, fragte sie.
»Vergiss es, Leonie. Das geht dich nichts an.«
Widerwillig spürte sie, wie Hitze in ihr Gesicht stieg. Wusste er etwa, dass sie bei der Vernehmung nicht die Wahrheit gesagt hatte? Fabian hatte sich umgedreht und war ohne Abschied in der Menge verschwunden, die sich langsam, Schritt für Schritt, zu einer Menschenkette rund um den Bahnhof formierte. Weit vorn zwischen farbenfrohen Transparenten und grünen Luftballons machte sie einen dunklen Lockenkopf aus, der ihr vage bekannt vorkam. Kaum zu glauben, er folgte dem Jungen und ließ sie hier mitten auf der Demo einfach stehen! Ihre Pläne, die nächste S-Bahn nach Hause zu nehmen, waren vergessen.
»Warte!«, rief sie. Fabian hatte sich einige Meter Vorsprung verschafft, und Leonie versuchte, es ihm gleichzutun und ihre Ellenbogen einzusetzen. »Pass doch auf, Kleine«, hörte sie von links. Auf der rechten Seite trat sie einer Frau unsanft auf den Fuß.
»Entschuldigung! Ich hab’s eilig«, rief sie, während sie sich durch die Menge drängte, die so eng stand, dass die Menschen ihr kaum ausweichen konnten. Erst neben dem Südflügel löste sich das Gedränge auf. Erleichtert holte sie tief Luft und sah Fabian etwa zwanzig Meter vor sich in den Mittleren Schlossgarten streben. Mit ein paar schnellen Schritten holte sie ihn ein.
»Renn doch nicht so!«, keuchte sie.
»Stör mich nicht bei meiner Arbeit!« Noch immer ignorierte er sie völlig und konzentrierte sich auf die parallel zur Bundesstraße 14 verlaufende Allee. Von dem Jungen war nichts mehr zu sehen. Rechts und links vom Weg lag das Zeltlager der Stuttgart-21-Gegner mit seinen Iglozelten und Tipis. »Wir schaffen das«, stand trotzig auf der Absperrung, mit der man sich gegen die drohende Räumung durch die Polizei schützen wollte. Fabian legte noch einen Zahn zu.
So ein Sturkopf! Langsam kam sie außer Puste, denn wo er mühelos zwei Schritte machte, schaffte sie gerade mal einen. Auf der Höhe des Lusthauses von Georg Beer, das schon eine ganze Weile hinter den Gerüsten für seine Renovierung verschwunden war, drehte er sich plötzlich um. Seine Augen funkelten.
»Ist dir eigentlich klar, dass du gerade eine Polizeiermittlung vereitelst? Das ist ein STRAFTATBESTAND.«
Leonie setzte alles auf eine Karte, stützte ihre Hände in die Hüften und fauchte zurück. »Aber ich stecke schon längst mit drin.«
»Ach ja? Ich hoffe, du weißt, was eine Falschaussage ist.«
»Der Junge ist unschuldig. Und wenn du hier weiter rumschreist, haut er dir noch ab.«
Statt noch etwas zu sagen, klappte Fabian den Mund zu und schüttelte den Kopf. »Also gut«, sagte er dann verbissen. »Wir reden später.«
Sie überholten einige junge Mütter mit Kinderwägen und wichen mehreren Radfahrern aus, die auf dem Neckarradweg unterwegs waren, manche von ihnen mit professioneller Ausrüstung, vollen Satteltaschen und kurz davor, unabsichtlich in eine Großdemo zu rauschen. Links vom Weg watete ein Penner in den Fontänen und wusch dabei gelassen seine Socken aus.
Weit vor sich sah Leonie den Jungen, der sich jetzt nach rechts wandte und in der Unterführung zur Stadtbahnhaltestelle Neckarstraße verschwand. Fabian begann zu rennen. Als sie ihn erreicht hatte, stand er im Tunnel, die Hände auf dem Geländer der Galerie, von der aus man nach unten sehen konnte. Weit vorn auf dem Bahnsteig in Richtung Stuttgart Süd und West erkannte sie Caravaggios Jungen. Wie hatte er ihn genannt? Alessio irgendwas. Aufgeregt redete er auf einen Gleichaltrigen ein, der eine schwarze Baseballmütze und eine weiße Jacke trug, und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Der andere begann zu taumeln. »Wer ist das?«, fragte sie leise.
»Keine Ahnung.«
Träge wie ein gelber Lindwurm und fast genauso lautlos fuhr die U 14 in Richtung Heslach ein. Leonie hielt den Atem an. Die Jungen rangelten keinen Meter von der U-Bahn entfernt, genau auf der roten Linie, die den Wartebereich von der Gefahrenzone trennte. Türen glitten auf, Menschen stiegen aus, andere ein. Dann verließ die Stadtbahn die Station. Inzwischen hatte der Fremde Alessio am Kragen gepackt und schüttelte ihn wie eine nasse Katze. Dicht neben
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