Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
durch den langgestreckten Schlossgarten, Stuttgarts grüne Lunge voller Kastanien und Ahornbäume, von denen ein guter Teil schon bald den Baggern zum Opfer fallen würde. Leonie schluckte, als sie an den Polizeieinsatz am 30. September letzten Jahres dachte. Der schwarze Donnerstag. Leander war damals ein winziges Baby gewesen, und sie hatte die Eskalation voller Sorge um ihren Bruder im Fernsehen verfolgt. Mit Wasserwerfern und Pfefferspray war die Polizei gegen die Schülerdemo und die vielen weiteren Gegner des Tiefbahnhofs vorgegangen, die die Baumfällaktion blockierten. Es hatte Hunderte von Verletzten gegeben, und das blutige Bild von Dietrich Wagner, der beim Wasserwerfereinsatz ein Auge verloren hatte, war um die ganze Welt gegangen. Wahrscheinlich hatte sich schon dort die Landtagswahl im März diesen Jahres entschieden.
»Für die Grünen wird es ganz schön schwer, wenn sie den unterirdischen Bahnhof bauen müssen«, sagte Fabian, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Leonie nickte zerstreut. Für Sebastian war der schwarze Donnerstag die Stunde der Wahrheit gewesen. Heldenmutig hatte er ein Einsatzfahrzeug erstiegen und sich später von der Polizei wegzerren lassen. Als Leonie ihren Bruder im Fernsehen gesehen hatte, war ihr die Luft weggeblieben. Fast wäre ihr Leander vom Schoß gefallen, der vor Schreck furchtbar gebrüllt hatte. Sebastian war seit der Aktion im Park ein anderer geworden. Seitdem misstraute er allen Obrigkeiten und setzte sich glühend für den Protest ein. Sie wappnete sich für die Begegnung mit ihm. Es würde sicher nicht leicht werden, ihn vom Infostand der Parkschützer loszueisen.
»Und du?«, fragte Fabian. »Gehst du demonstrieren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich suche meinen Bruder. Der war in der Schülerdemo letztes Jahr dabei und ist seitdem bei den Parkschützern.«
»Die haben uns damals provoziert«, stellte Fabian leise klar. »Und Pfefferspray hatten nicht nur wir dabei.«
Leonie setzte sich aufrecht. »Eine Freundin von mir hat sich eine schwere Prellung am Oberschenkel zugezogen, als ein Wasserwerfer sie von den Füßen gerissen hat. Und Dietrich Wagner hat sein Augenlicht verloren.«
Er zuckte die Schultern. »Ein Kollege hatte wochenlang einen üblen Tinnitus von einer Trillerpfeife. Ein anderer eine Augenentzündung.«
»Von euerm eigenen Pfefferspray, oder war doch Reizgas im Wasserwerfer?«
»Wenn du meinst«, sagte er gelassen. »Was glaubst du, wie das ist, wenn man einer Mauer aus Leuten gegenübersteht, die da nicht sein sollte. Stuttgarter Gutmenschen aus den Halbhöhenlagen, die idealistisch für die Natur und die Vernunft kämpfen. Und du weißt, dass du sie irgendwann nicht mehr schützen kannst.«
»Du warst dabei?«
»Nein, war ich nicht. Aber ich hab’s von den anderen gehört.«
Sie erhoben sich und stiegen im Gedränge an der S-Bahnstation Stuttgart-Hauptbahnhof aus. Leonie stellte überrascht fest, dass Fabian locker auf sie herunterschauen konnte. Sie hatte ihn irgendwie kleiner in Erinnerung. Während die erste Rede der Kundgebung über den Arnulf-Klett-Platz schallte, nahmen sie die schräge Rolltreppe, die zum Eingang der Königsstraße führte.
Hoch über ihnen drehte sich auf dem Turm des Hauptbahnhofs der Mercedesstern, das Wahrzeichen Stuttgarts. Eigentlich sagt das alles, dachte Leonie. Nie würde eine Stadt, die durch die Autoindustrie zu Geld gekommen war, der mäßigenden Vernunft den Vorrang vor dem technisch Machbaren geben, so fraglich das auch immer sein mochte. Und die Gelddruckmaschine, die den Erlös der Grundstücksverkäufe an die Bahn und auf die Konten weniger anderer Profiteure spülte, war nicht mehr zu stoppen. Stuttgart 21 war in den Köpfen der Verantwortlichen längst gebaut.
Die Polizei hatte die mehrspurige Fahrbahn vor dem Bonatzbau weiträumig abgesperrt. Auf dem Arnulf-Klett-Platz standen die Menschen Seite an Seite, Brust an Rücken, so dass kein Durchkommen mehr möglich war. Es roch nach Hitze, Staub und Schweiß.
»Fünfzehntausend von uns haben sich heute zusammengefunden, um ihren Widerstand zu bekunden«, verkündete Brigitte Dahlbender vom BUND siegessicher. Mit lautstarken »Obenbleiben, Obenbleiben«-Rufen quittierten die Demonstranten diese Nachricht, applaudierten und ließen ihre Trillerpfeifen über den Platz gellen. Unwillkürlich hielt sich Leonie die Ohren zu.
»Ich frage mich nur, wie du deinen Bruder hier finden willst.« Fast ging Fabians Stimme im Lärm unter.
»Kein
Weitere Kostenlose Bücher