Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
ihm genau das im Umgang mit den Jungs zugute. Wenn sie nicht spuren, knockt er sie aus , dachte Fabian, und verdient sich so ihre Achtung . Rundum standen Aktenschränke und Regale voller Bücher, und an der Wand hing das Schwarzweißporträt eines weiteren Mannes mit Bart, Theodor Rothschild, dem ehemaligen Leiter des Waisenhauses, der im KZ umgekommen war. Durchs Fenster kam jetzt, nach dem Gewitter, eine frische Brise herein. Das Heim lag im gutbürgerlichen Viertel nahe der Esslinger Burg, beinahe in der Nachbarschaft von Fabians Eltern.
»Setzen Sie sich doch!« Der Sozialpädagoge bot ihm den Platz gegenüber an und lehnte sich zurück.
»Gerne, danke.«
»Wollen Sie Kaffee oder ein Glas Wasser?«
Er verneinte. »Sie wissen, weshalb ich da bin?«
»Alessio … Das wurde aber auch Zeit. Wir haben ihn schon vor einer Woche als vermisst gemeldet.«
Fabian nickte. »Alles deutet darauf hin, dass er in den letzten Tagen mehrere Straftaten begangen hat. Einen Handtaschenraub, der vielleicht der Auslöser für sein Verschwinden ist, und vorgestern eine schwere Körperverletzung. Sein Opfer liegt im Koma.«
Hertneck griff nach dem Päckchen Zigaretten auf dem Schreibtisch und klopfte eine heraus. »Scheiße«, sagte er unverblümt und zündete sie an. »Beim nächsten Mal kommen Sie doch bitte, bevor etwas passiert!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich weiß, wie überflüssig solche Bemerkungen sind. Aber gerade Alessio. Als er kam, dachte ich, dass er eine reelle Chance hätte.«
»Warum?«
»Klar ist er schon mehrmals auffällig geworden, aber trotzdem … Alessio ist zu uns gekommen, als seine Mutter in die Klinik musste. Depressionen. Er ist nicht dumm und in der Lage, sein Verhalten zu reflektieren und daraus zu lernen.
Die Zigarette glühte auf, als Hertneck daran zog. Fabian setzte sich ein Stück näher ans offene Fenster.«
»Hat er eigentlich keine weiteren Verwandten in Esslingen?«
»Doch. Es gibt einen Onkel, aber zu dem wollte er nicht. Er hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und wollte auch keine Besuche von ihm. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke – es könnte sein, dass er Angst gehabt hat.«
»Warum fürchtet er sich vor seinem einzigen Verwandten wie der Teufel vor dem Weihwasser?«
»Keine Ahnung.«
Fabian nahm sich vor, den Transportunternehmer Alberto Cortese zu überprüfen, sobald er wieder zurück in seinem Büro war.
Der Sozialpädagoge sprach weiter. »Alessio war nicht nur vom Tod seines Vaters und der Krankheit seiner Mutter schwer traumatisiert. Er hat in seiner Kindheit Gewalterfahrungen gemacht, die seine Persönlichkeitsentwicklung schwer beeinträchtigt haben. Zweimal hat er sich deswegen von uns in Obhut nehmen lassen. Freiwillig.«
Fabian nickte. Ein prügelnder Vater, der die Mutter misshandelte, wäre das nicht Grund genug gewesen, dass Alessio bei seinem Tod nachgeholfen hatte? Das konnte er ihm nicht einmal übelnehmen. Der Sozialpädagoge zog an seiner Zigarette und pustete Fabian den weißen Rauch ins Gesicht. Er unterdrückte ein Husten.
»Sie sind Nichtraucher? Entschuldigung«, sagte Hertneck und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »In der Wohngruppe ging es zuerst ganz gut. Alessio ist auf den ersten Blick ein netter Junge, räumt den Tisch ab, stellt die Spülmaschine an, rührt die Suppe um. Schwiegermutters Liebling würde ich so einen nennen. Damit kommt er bei den Erziehern natürlich gut an.«
»Und die anderen Jungs?«
»Die loten, wenn ein Neuer kommt, zunächst einmal seinen Rang in der Hierarchie aus.«
»Wie alle Jungs«, sagte Fabian und erinnerte sich an entsprechende Prügeleien in der Schule.
»Anders. Hier geht es weit heftiger zu. Aber selbst das kann man ihnen nicht übelnehmen. Die Jungs, die zu uns kommen, sind arm dran. Ihren Eltern sind sie egal und wenn nicht, dann bringen sie ihnen das Falsche bei. Du bist der Beste, wenn du das neuste Handy hast und wenn du es schaffst, dem anderen schneller in die Fresse zu hauen als er dir.« Hertneck stand auf, holte die Kaffeekanne und goss die dunkelbraune Brühe in seine angeschlagene Henkeltasse. »Sie wollen wirklich keinen?«
»Ich hatte heute schon genug.« Fabian setzte sich zurück und streckte seine langen Beine aus. Er fand Hertneck nicht unsympathisch. Er war einer, der sich für seine Aufgabe einsetzte. So wie er selbst. Wahrscheinlich waren sie beide perfekte Kandidaten für einen Burnout. Wenn er nicht schon vorher sein Leben unter
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