Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
Treppe herunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Welt schwankte nicht mehr.
Leonie überquerte den Schlossplatz. Sie fühlte sich federleicht. Sie war frei, eine Jongleurin, bereit, die Bälle aufzunehmen, die die Zukunft ihr zuspielen würde, und sie hoch in die Luft zu werfen. Die Cafés leerten sich langsam. Der Himmel im Osten war von einem fast unwirklichen Blau, doch weit im Westen ballten sich Wolkenberge zusammen, die ihn in Windeseile mit Blei überziehen würden.
Diese Mörderschuhe! Sie stoppte, streifte die hochhackigen weißen Sandaletten von den Füßen, lief barfuß weiter, und fühlte sich frei. Der Königsbau mit seinen klassizistischen Arkaden lag hinter ihr. Links erhob sich das Kunstgebäude, auf dessen Kuppel der goldene Hirsch glänzte, und vor ihr das Neue Schloss in seiner barocken Großzügigkeit.
Leonie überquerte den Vorplatz mit dem Brunnen, an dem sich fette Bronzeengel räkelten, und lief bis zum Eckensee. Der Grund unter ihren Füßen war warm, voller Kiesel und ziemlich dreckig, doch im Moment war ihr das egal. Hier trafen sich nachmittags die jungen Mütter, ließen die Kleinen Tauben jagen und Enten füttern und förderten den Algenbestand im ohnehin trüben Wasser mit Brotrinden. Die Enten waren so überfüttert, dass sie dem Futter oft davonschwammen.
Sie setzte sich zwischen Staatstheater und Landtag auf eine Bank. Am anderen Ende saß ein junger Mann, hob kurz den Kopf und steckte ihn dann wieder in seine Zeitung. Sie rückte ganz an den äußeren Rand, so dass sie ihre Füße in der Mitte hochziehen und seitlich ablegen konnte. Wie lange war sie nicht mehr barfuß gegangen? Eigentlich war es hier zu schmutzig und zu kieselig dafür. Zweifelnd betrachtete sie ihre schwarzen, schmerzenden Fußsohlen und beschloss, sich zu Hause näher mit ihnen zu befassen.
Im Westen zerriss ein Blitz die grauen Wolken, einen Atemzug später krachte der Donner in ihren Ohren. Sollte sie Vernunft walten lassen und gehen? Nein, sie blieb sitzen, ließ zu, dass ein böiger Wind in ihre Haare fuhr und genoss es sogar. Der Himmel glich der wilden Palette eines Malers, der Sepiaschwarz, Violett und Ocker bedenkenlos miteinander vermischte. Der erste dicke Tropfen traf sie ohne Vorbereitung, dickflüssig wie Farbe oder Blut. Einer, dann noch einer, dann ein ganzes Dutzend, im Nu hatte der Regen seinen grauen Vorhang zwischen Bank und See fallen gelassen.
»Huch!«, sagte sie.
Der Mann neben ihr hob die Augen und fasste einen Entschluss. Er breitete die Stuttgarter Zeitung über ihren Köpfen aus und zog Leonie hoch. Mit der Berührung traf sie ein elektrischer Schlag, der sie ihre Hand zurückziehen ließ.
»Kommen Sie!«, rief er gegen den prasselnden Regen an, der den Eckensee binnen Sekunden in ein schlammiges Meer verwandelte. Er griff ein zweites Mal nach ihrer Hand und rannte mit ihr in Richtung Kunstgebäude. Über ihnen leerte der Himmel seine Wasserspeicher und machte aus dem Boden eine Wattlandschaft. Leonie rutschte mehr, als dass sie lief, und kam nicht dazu, sich zu fragen, ob sie in Entenkot trat oder nicht. Rechts trug sie die Sandalen, ihre schlackernde Tasche und ihre Jacke und links überließ sie sich der überraschend festen Hand, die nicht bereit war, sie loszulassen. Spürte er die elektrischen Ströme denn gar nicht, die zwischen ihnen hin und her flossen? Der Schlossplatz war menschenleer, die Straßencafés lagen hinter einem Regenschleier.
Völlig außer Atem und komplett durchnässt, kamen sie unter dem Vordach des Kunstgebäudes an. Als die Zeitung in feuchte Fetzen zerfiel, begannen sie zu lachen, bis sie sich den Bauch halten mussten.
»Niemand … hat einen … Regenschirm!«, stieß der Fremde hervor.
»Sie sehen alle aus wie …« Leonie erstickte fast an dem Wort. »Nasse Enten!«
Die Passanten, die unter dem Vordach Schutz gesucht hatten, starrten sie missbilligend an. Sicher dachten sie, sie hätten sich am helllichten Montagnachmittag mitten in der Stadt betrunken. Als Leonie in die Realität zurückkehrte, fiel ihre Bilanz nicht gerade berauschend aus. Der Saum ihrer Hose hing formlos und schwer auf den Boden und verdeckte ihre Füße. Ihre Haare tropften auf ihren Rücken, und das Seidenshirt war sicher nicht mehr zu retten. Der Fremde stand kaum einen Schritt entfernt und hielt noch immer ihre Hand. Seine Augen glitten über sie hinweg, und plötzlich wurde ihr bewusst, was er sehen musste. Das klatschnasse Shirt lag verdammt eng an …
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