Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
einem Zug aushauchte.
»Und was würden die Jungs brauchen, damit es besser läuft?«
Der Erzieher sah ihn aus seinen braunen Augen an, die jetzt leidenschaftlich blitzten. Es war klar, dass er über diese Antwort lange nachgedacht hatte. »Sie brauchen männliche Bezugspersonen und Vorbilder, für die Gewalt nicht alles ist. Jugendliche Gewalttäter, das sind nicht die Kerle, die freitags in die Moschee gehen, oder die Messdiener in St. Paul. Und es sind auch nicht die, die gestern mit der A-Jugend des Fußballvereins gewonnen haben oder die Kampfsportler, die zum Kickboxen gehen. Und auch nicht die Rockmusiker mit eigener Band. Es sind die, für die sich ihr Vater nicht interessiert, und die das nirgendwo und durch nichts kompensieren können. Ihre einzigen Bezugspersonen sind ihre Cousins mit den dicken Autos, die in der Stadt die besten Miezen abschleppen, auf zweifelhafte Weise ihr Geld verdienen und immer und überall damit durchkommen.«
»Und die zuschlagen, wann es ihnen passt«, sagte Fabian. »Damit beschreiben sie ein typisch kriminelles Milieu. Aber Alessio ist doch in einer kleinen heilen Familie aufgewachsen.«
»Wissen Sie das?«, fragte Hertneck.
Fabian schüttelte den Kopf. »Das war ironisch gemeint.«
»Wegen seinem freundlichen Verhalten uns gegenüber haben die anderen Jungs Alessio in die unterste Schublade gesteckt – Marke Weichei – und gedacht, sie könnten mit ihm machen, was sie wollten. Aber er hat sie schnell eines Besseren belehrt. Wir mussten erleben, dass er gewaltbereit ist und noch dazu unberechenbar. Bei ihm öffnen sich Abgründe, von denen man völlig überrascht wird. Einmal hat er Cem aus seiner Wohngruppe auf den Boden geworfen und mit einem Klappmesser bedroht. Er hatte es ihm schon an den Hals gesetzt. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte.«
»Und was hatte die Attacke ausgelöst?«
Hertneck zuckte die Achseln. »Italien – Türkei. Das muss bloß eine blöde Bemerkung über Fußball gewesen sein. Wenn man ihn reizt, reagiert Alessio komplett über, auch bei Nichtigkeiten, aber Anspielungen auf seine Familie und seine italienische Herkunft kann er überhaupt nicht ab. Er ist jähzornig und spiegelt damit genau das, was er in seiner Kindheit von seinem eigenen Vater erfahren hat.«
Fabian nickte. »Vorgestern ist er komplett ausgerastet. Er hat einen Jungen ins Koma geprügelt.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Hertneck stand auf und trat mit Fabian auf den gekachelten Flur hinaus, in dem ihre Schritte widerhallten. Hinter einer der Türen stritten sich zwei Jungen lautstark um irgendein Lied auf YouTube. »Das ist doch Coverscheiße, Mann!«, rief einer. »Mach das aus!«
»Du hast echt keinen Durchblick«, gab der andere zurück und drehte voll auf.
Hertneck legte die Hände auf die Ohren und grinste. »Die meisten Konflikte tragen sie ohne Prügeleien aus.«
Fabian trat auf den Hof hinaus, über dem jetzt Stille lag. Die Basketballer hatten zu spielen aufgehört. Das Feld war so hoch umzäunt, dass der Ball auf keines der Nachbargrundstücke fallen konnte, die direkt an das Heim angrenzten.
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte Hertneck.
»Es gibt Hinweise darauf, dass sich Alessio in Stuttgart in der Straßenkinderszene aufhält. Mit den dortigen Kollegen werden wir den Kids mal einen Besuch abstatten.«
»Wenn Sie ihn haben«, sagte Hertneck leise, »dann geben Sie ihm eine Chance! Suchen Sie nach der Wahrheit!«
23.
Da war nichts über ihm als der Himmel, der nach dem Gewitter wieder blau leuchtete. »Wuhuu! Das ist so geil!« Alessio jubelte so laut, dass die da unten den Blick nicht von ihm wenden konnten. Sie waren richtig klein, Henne, Blue mit ihrem blauen Schopf und ein paar der anderen Kids. Er hing hoch in den Seilen in einem dieser Parkbäume, die bald gefällt werden sollten. Der Baum war uralt, und sein Stamm so dick, dass er ihn nicht umfassen konnte.
»Pass lieber auf!«, sagte Ron, der ihn sicherte. Der Typ von Robin Wood hatte ihm versprochen, ihn einmal mit hinaufzunehmen, als Dank dafür, dass er auf der Demo Prospekte verteilt hatte. Er hatte nicht gefragt, woher er kam. Alessio gefiel, dass die Baumkletterer von Robin Wood für ihre Ziele alles gaben und dabei genauso in den Tag hinein lebten wie er selbst. Ron war ein wettergegerbter Kerl mit Rastalocken, der mehr in den Bäumen als auf der Erde herumhing.
»Gib acht, wo du hintrittst!«, mahnte er. »Du musst dich konzentrieren, auch wenn
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