Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
ich dich an der Leine hab.«
»Wenn es keine Bäume mehr gibt, stirbt auch der Mensch«, stand auf dem Transparent, das sie an der Plattform des besetzten Baums aufhängen wollten. Alessio angelte mit dem Fuß nach einer Astgabel, stellte sich darauf und band das Spruchband an einen Ast. Ron befestigte es auf der anderen Seite und schwang sich elegant auf die Plattform. Cool , dachte Alessio. Er zog sich hoch, stand sicher im Baum und schaute sich um. Der Park schlug eine grüne Schneise in das Häusergewirr der Stadt. Hinter ihm fuhren zwei Züge langsam in den Kopfbahnhof ein. Vor ihm schob sich der Stuttgarter Osten den Hang hinauf, Häuser über Häuser.
»Ich lass dich jetzt runter«, rief Ron. »Die Kleine da unten verrenkt sich fast den Hals nach dir.«
Alessio stieg von der Plattform, hing einen Moment lang in der Luft, und dann ging es an der Sicherheitsleine bergab. Fast wie im freien Fall war das, seine Füße suchten Halt an der Borke des Baums, der hellgrüne gezackte Blätter hatte und dessen Namen er nicht kannte. Als er unten angekommen war, umringten die anderen ihn und schlugen ihm auf die Schultern. Blue legte ihm die Arme um den Hals. Sie roch nach dem Shampoo seiner Mutter, von dem sie eine Ersatzflasche im Vorratsschrank gefunden hatten.
»Hey, du Held«, sagte Henne und öffnete zischend eine Bierflasche. »Trink!«
Das Bier rann eiskalt durch seine Kehle. Hinter ihm standen die großen Tipis der Parkbesetzer. Henne war der Häuptling der Huronen und er, Alessio, der letzte Mohikaner im tiefen Wald von Stuttgart City. Er stellte sich auf ein Bein und tanzte johlend um Henne und Blue herum. Als er wieder zur Ruhe gekommen war, drehte sich die Welt. Zuerst dachte er, das Gesicht, das sich zwischen die beiden geschoben hatte, sei eine Vision, direkt aus einem seiner Albträume entwichen. Als er begriff, dass es echt war, wurde ihm schlecht, und er wandte sich ab.
»Ciao!« , sagte Kain und legte ihm die Hand auf den Rücken.
Alessio drehte sich langsam um und suchte Blues Blick. Sie hatte verstanden, war schon drei Schritte zurückgetreten und hielt die leise knurrende Ronja am Halsband fest. Er sagte nichts und schaute sich um. Seine Freunde umringten ihn schweigend. Instinktiv hatten sie verstanden, dass Alessio nicht auf diesen Besuch gewartet hatte, und waren wachsam.
»Was willst du?« Zeit gewinnen war alles. Alessio überlegte fieberhaft. Irgendwo musste sich doch ein Ausweg auftun!
Kain hob die Hände. »Nur mit dir reden.«
»Ist das okay?«, fragte Henne.
Alessio nickte, schüttelte Kains Hand ab, die sich auf seinen Arm gelegt hatte, und folgte ihm über die Wiese. Blues beunruhigter Blick brannte in seinem Rücken. Bloß nicht umdrehen! , dachte er. Bloß nicht Kain auf den Gedanken bringen, er hätte was mit ihr! Sie gingen bis zu einer Baumgruppe und stellten sich einander gegenüber. Alessio spürte die raue Rinde an seinem Rücken.
»Wie geht es dir?« Kains Augen ruhten auf ihm, fast so, als hätte er sich Sorgen gemacht.
»Gut. Das siehst du doch.«
Sein Bruder nickte. »Klasse Clique«, sagte er spöttisch. »Seit wann hängst du mit denen ab?« Zorn stieg in Alessio auf wie eine Stichflamme und verpuffte ebenso schnell. Jeglicher Widerstand hatte seinen Sinn verloren. »Noch nicht lange«, sagte er ausweichend.
»Du hast hoffentlich nichts gesagt?«
»Nein!«
»Du weißt, warum ich da bin?«
Er nickte widerstrebend.
»Um dich nach Hause zu holen, Mann. Die anderen warten auf dich. Er wartet auf dich.«
»Ich habe kein Zuhause«, sagte er und dachte an seine Mutter. Es war besser, sie lenkten die Aufmerksamkeit nicht auf Laura, vergaßen sie ganz. Sie hatte eine reelle Chance, denn es gab keine Blutsbande, die sie mit den anderen verband, und in ihrer Klinik war sie relativ sicher.
»Das stimmt so nicht!« Kains Zeigefinger deutete auf seine Brust. »Ich, wir sind dein Zuhause. Blut ist dicker als Wasser.«
Er war im Kreis seiner Familie neu geboren worden, hatte auf das Heiligenbild geschworen und es danach verbrannt.
»Ich will das alles nicht.« Er steckte die Hand in seine Jeanstasche und griff nach den fünf Hunderteuroscheinen, die er zusammengerollt und mit einem Gummiband umwickelt hatte. »Hier, ich gebe dir das Geld. Das kannst du an ihn weitergeben. Damit kaufe ich mich frei.«
Sein Bruder starrte ihn ungläubig an. »Du denkst, du kannst deine Verpflichtungen loswerden, wenn du etwas Kohle lockermachst, die du ausgerechnet einer alten Dame
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