Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
Midlifecrisis vor sich, der sich verzweifelt bemühte, eine rettende Planke seines gekenterten Lebensschiffs zu erreichen.
»Sie stehen nicht mehr auf mich.« Seine Hand, schmal, elegant und mit immer sauber manikürten Fingernägeln, strich durch die Locken.
Leonie lachte leise. »Oh nein, daran liegt es sicher nicht. Vielleicht stehst du nicht mehr auf sie.«
Er rückte näher heran und legte ihr die Hand aufs Knie. »Ich vermisse dich. Nur deshalb bin ich in diese Stadt gekommen …« Seine Geste fasste alles zusammen.
Sie grinste. »Nein, Stuttgart passt wirklich nicht zu dir.« Er war wie ein Albatros, den man in einen Dorfteich gesetzt hatte. Wenn er seine Flügel spreizte, würde er an beiden Ufern anstoßen.
Das Eis in ihrer Hand verwandelte sich langsam in Schokoladensoße, lief an ihrer Handkante hinab und tropfte auf die graue Hose. Noch immer wartete die Taube geduldig auf weitere Krümel und hüpfte vorsichtig einen Satz näher.
»Ich bin gekommen, um dich wiederzusehen. Und dann lächelt mir Fortuna und du bewirbst dich auf die ausgeschriebene Stelle.«
Leonie zerkrümelte die Reste der Waffel und leckte sich über die Hand. Die Hose würde sie in die Reinigung geben müssen, aber wenigstens die Taube sollte sich freuen. »Ich habe nicht gewusst, dass du in Stuttgart bist.«
»Certamente no!« Er schüttelte den Kopf. »Und dann das: Wir gehen die Bewerbung durch, und da steht, dass Leonie ein Kind hat, einen Sohn.« Er schaute sie einen Moment lang an, die dunklen Augen undurchdringlich. »Meinen Sohn. Ich hätte mich fast verraten.«
Leonie lachte und wunderte sich gleichzeitig darüber. »Hoffentlich verfügen der Institutsleiter und seine Stellvertreterin über keine gute … Intuition.«
Damiano ignorierte ihren Einwurf. »Wie heißt er? Wie sieht er aus? Wie entwickelt er sich?« Die Fragen prasselten in einem so leidenschaftlichen Staccato auf sie nieder, dass sie sich an Camillas Behauptung erinnerte, Damiano sei immer ein guter Vater gewesen, der seine Töchter über alles liebte. Hatte sie wirklich das Recht, Leander diesen vorzuenthalten? Leonie riss sich zusammen und schnipste die Krümel ihrer Waffel über den Rand der Stufe, wo die Taube gierig danach pickte und einen nach dem anderen in ihrem Kropf verschwinden ließ. »Er heißt Leander, ist elf Monate alt und spricht drei Worte, Mam, Njam und Pop, womit er seinen Großvater meint«, sagte sie und kramte in ihrer Umhängetasche nach ihrer Geldbörse.
»Leandro«.
Er nickte, und plötzlich erschien vor ihren Augen das Gesicht Alessios, der in dem Kleinen seinen Bruder gesehen hatte. Mit seinen dunklen Locken hätte er gleichfalls ein Sohn Damianos sein können. Alessio, ein Kind der römischen Oberschicht, das ins Internat ging und mit fünfzehn auf der Vespa rund um die Villa Borghese brauste. Das Trugbild verschwand so schnell, wie es gekommen war.
»Hier. Das kannst du behalten.« Sie zog ein Foto hervor, das ihren Sohn über beide Backen lachend zeigte. Alle vier Zähne blitzten weiß. »Er sieht aus wie du, sizilianisch-maurischer Einschlag. Ein Putto Murillos.«
Damiano griff danach wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsreifen. »Grazie!« , sagte er langsam. »Spero che lui sta bene?«
»Wie die Made im Speck. Im Moment passt sein Großvater auf ihn auf. Und auch sonst habe ich jede Menge Hilfe.«
»Aber dann könntest du doch … Carissima … « Seine andere Hand, die das Foto nicht hielt, griff nach ihrer, aber sie zog sie entschieden zurück.
»Nein, ich werde die Stelle am Institut nicht annehmen, und ich will auch kein Arrangement zwischen uns. Aber für Leander und dich werden wir eins finden. Du darfst ihn kennenlernen und in Kontakt mit ihm bleiben.« Einen Moment lang erschrak sie über ihre eigene Großzügigkeit. Wenn man ihr heute Morgen gesagt hätte, sie würde Damiano gestatten, Leander zu besuchen, hätte sie nur gelacht. Aber jetzt wirkte er so verloren auf sie. Später würde sie sich Gedanken darüber machen, ob und wie sie ihn ihrer Familie vorstellen würde. »Hallo, hier ist Leanders Vater, ein hochdotierter Kunstgeschichtsprofessor aus Rom. Wahrscheinlich noch verheiratet und ein bisschen durch den Wind. Midlifecrisis. Und Sebastian – wegen ihm sieht Leander so südländisch aus.« Für dieses unglaubliche Szenario und für neue Pläne, ihre berufliche Laufbahn betreffend, würde sie sich Zeit nehmen, doch nicht jetzt.
»Adieu!«, sagte sie, stand auf, lächelte ihm zu und ging die
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