Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
silbriges Licht lag noch immer über dem Himmel, der voller Sterne stand, als hätte er das Schlaflied gehört und wollte sein Bestes geben. Auf Leanders Lippen lag ein Lächeln. »Träum süß!«, sagte Leonie und deckte ihn zu.
Auf Zehenspitzen schlich sie sich die Treppe hinunter in den ersten Stock. Nicht einmal Emine hatte Zutritt zu Mutters Atelier, und sie selbst hatte es seit dem Unfall nicht betreten. Aber jetzt musste es einfach sein. Wenn sie ihr schon keinen Rat geben konnte, brauchte Leonie zumindest das Gefühl, ihr nahe zu sein. Vorsichtig drückte sie auf die Klinke und trat ein. Das Deckenlicht funktionierte zum Glück noch. Es beleuchtete einen Raum, den ihr Vater seit zehn Jahren nicht verändert hatte. Sogar ihr letztes Bild stand noch auf der Staffelei, und der Geruch nach Farben und Lösungsmittel hing noch immer wie eine Ahnung in der Luft. Auf dem Tisch lag eine weiße Rose. Als Leonie sie anhob, verlor sie ihre Blätter. Sie schluckte und trat an die Staffelei heran. Irene Hausmann hatte Veduten gemalt, Ansichten der malerischen Fachwerkstadt mit dem Alten Rathaus und der Burg, sowie stimmungsvolle Landschaftsbilder. Bei einem Malausflug an den Neckar hatte sie als junge Kunststudentin ihren Vater kennengelernt, der gerade seinen Köder ausgeworfen und dabei eine Frau und keinen Fisch gefangen hatte. Die romantische erste Begegnung hatte Stoff für unzählige Anekdoten zu Hochzeitstagen und Festen geboten. Künstlerisch hatte sich ihre Mutter in den letzten Jahren weiterentwickelt. Ihre Bilder waren immer reduzierter, leichter und abstrakter geworden, bis man die Architekturmotive schließlich nur noch erahnen konnte. In den letzten zwei Jahren ihres Lebens hatte sie Ausstellungen im ganzen Landkreis gehabt und war dabei gewesen, sich überregional einen Namen zu machen.
Das war der Stand der Dinge, als Irene nach einem Malausflug an einem finsteren Herbstabend mit dem Fahrrad von der Neckarinsel zurückfahren wollte. Ein Unbekannter hatte sie angefahren und Fahrerflucht begangen. Als der Krankenwagen eintraf, lag sie schon im Sterben. Ich heul hier jetzt nicht , dachte Leonie und ging zum Fenster, das ihr Vater extra für seine Frau vergrößert hatte. Schon als Kind hatte sie die Leidenschaft ihrer Mutter für Stifte und Farben geteilt und erinnerte sich an die Liebe, mit der sie ihr die Hand geführt hatte. »So schraffiert man, Leonie«, hatte sie gesagt und den Pastellstift schräger aufs Blatt gelegt, als Leonie es je gewagt hätte. Im hinteren Teil des Raumes standen ein paar großformatige Bilder, die ihr Vater mit Decken sorgsam zugedeckt hatte. Bilder, die sie nicht kannte. Sie trat heran und entfernte vorsichtig eine Stoffbahn. Was darunter zum Vorschein kam, ließ sie staunen. Die Leinwand war in Acryl bemalt, wild, abstrakt, in leuchtenden Farben. Das also waren die letzten Bilder ihrer Mutter. Sie zeigten einen ganz anderen, neuen Stil, als ob sie sich gehäutet hatte.
»Cool, nicht?« Leonie sah Sebastians Silhouette in der offenen Tür. Gefolgt von Max, dem Mops, betrat er den Raum. Warum nicht, dachte sie. Ihre Mutter hatte Tiere geliebt und sicher nicht gewollt, dass man ein Mausoleum aus ihrem Atelier machte.
»Ich bin manchmal hier«, sagte er leise. »Dann kann ich ihre Stimme und ihr Lachen hören. Diese Bilder …« Er trat näher heran, und der Mops folgte ihm auf leisen Sohlen.
»Sind wirklich gut«, vollendete sie.
»Wenn du das als Fachfrau sagst. Jedenfalls komplett anders als alles, was sie vorher gemalt hat.«
Leonie bückte sich und strich dem Mops über die seidigen Ohren und den speckfaltigen Hals. Er wedelte mit dem Hinterteil, entfernte sich und begann, die eingetrockneten Farbtuben zu beschnüffeln.
Sebastian ging zum Tisch und hob das Deckblatt eines Zeichenblocks. »Das hier ist übrigens von mir.«
»Du zeichnest in Mutters Atelier?«
»Ich bewahre nur meine Sachen hier auf«, sagte er. Neben dem Block lag eine Schachtel mit Blei-, Kohle- und Rötelstiften.
Leonie trat näher heran und betrachtete das obere Blatt. Es zeigte eine Ansicht des Kirschbaums von unten, durch die Froschperspektive gleichzeitig realistisch und dynamisch verzerrt. Sie blätterte weiter. Ein schlankes Mädchen, das mit einem Regenschirm in der Luft schwebte, zart und leicht wie eine Seifenblase.
»Woher kennst du die Baumelfe?«
»Flavia? Ich treffe mich manchmal mit ihr.«
Der ganze Block war voller Skizzen. Leonie hatte nicht gewusst, dass seine Begabung so
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