Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
Vermisst die eigentlich keiner?«
»Wir wissen nicht immer, was dahintersteckt, wenn ein Kind auf die Straße geht«, der Polizist auf dem Beifahrersitz drehte sich um. »Aber du kannst dir sicher sein, dass sie es nicht grundlos tun. Ohne Not setzt sich keiner diesem Leben aus. Aber für die Blauhaarige gibt es keine Vermisstenanzeige, die passen könnte.«
»Ihre Eltern suchen sie nicht?«, fragte Fabian fassungslos.
»Sie muss ja nicht hier aus der Gegend kommen. Und wenn doch, im Umkreis von Stuttgart ist sie jedenfalls niemandem abhandengekommen.«
25.
»Wir könnten ein neues Auto kaufen. Die Rostlaube ist sowieso dauernd in der Werkstatt.« Paps stand in der Tür zu ihrer Dachwohnung und stieß sich den Kopf am Rahmen. Die dünnen, blonden Haarsträhnen hatten sich von seiner Glatze gelöst und standen in alle Richtungen ab. Er trug eine kurze Hose und Sandalen. Hinter ihm quälte sich der Mops die Treppe hinauf, hechelte in der Hitze und lugte mit zerknautschtem Gesicht hinter seinen Beinen hervor.
Leonie wurde das Herz schwer. Die wahre Botschaft seiner Aussage lautete: »Lass uns zusammenbleiben und wieder eine Familie sein!«
Sie saß mit Leander auf dem Schoß am Computer und suchte nach Stellenangeboten. Das Dachgeschoss hatte schräge Wände und war nicht für große Leute gemacht, aber Leonie fühlte sich hier wohl. Es gab ein Messingbett, einen gewachsten Eichentisch und ein Gitterbett, in dem schon Generationen von Hausmanns geschlafen hatten. An der einzigen deckenhohen Wand war das Regal bis zum dritten Fach ausgeräumt und mit Leanders Spielzeug gefüllt. Darüber türmten sich Leonies Fachbücher bis an die Decke. Ein fetter Bronzebuddha meditierte auf ihrer alten Kommode, die der Holzwurm langsam aber sicher von innen aushöhlte. Er war das letzte Erinnerungsstück an Jonas, und sie brachte es einfach nicht fertig, ihn auszusortieren.
»Wie war es in Stuttgart?«, fragte er. Leander streckte die Arme nach seinem Opa aus und wechselte kurzerhand die Trageperson.
Leonie biss sich auf die Lippe. Als sie nass und schmutzig heimgekommen war, hatte sie sich mit dem Kleinen in ihre Dachwohnung zurückgezogen, ziemlich lange und heiß geduscht und den Rest des Nachmittags Holztürme gebaut und Eisenbahnschienen zusammengesetzt. Sie hatte einfach nicht die Kraft gehabt, ihrem Vater zu erzählen, dass sie die Stelle nicht antreten würde. Es war zu viel passiert. Da war Fabian, der vor zwei Tagen sein Leben riskiert hatte, Damiano, den sie irgendwie in ihres einbauen musste und die Begegnung mit dem Fremden, die nach Abenteuer geschmeckt hatte.
»Es ist nicht so gut gelaufen«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. »Ich werde die Stelle nicht annehmen.«
Er nickte und respektierte, dass sie nicht darüber reden wollte. »Es wird andere Stellen geben.«
Müde reichte er ihr ihren Sohn. Der Tag hatte ihn mitgenommen. Erst Sebastian und seine Strafe, dann Leonie, die nichts auf die Reihe bekam. Als er langsam die Treppe herunterstieg, sah er mit seinem zerzausten Kopf ganz verloren aus. Der Mops hoppelte ihm auf krummen Beinen hinterher.
Leonie seufzte und wandte sich ihrem Sohn zu. »Und du gehst jetzt schlafen?«
Als er im Bett lag und seiner Spieluhr lauschte, die unermüdlich »Weißt du wie viel Sternlein stehen« spielte, nahm sie ihre Internetrecherchen wieder auf.
Warum nur gab es in Nord- und Ostdeutschland so viele Möglichkeiten, während es hier Essig mit freien Stellen war? Stuttgart war für Kulturschaffende wie leergefegt. Sie seufzte. In Ingolstadt wurde ein Volontariat bei der Stiftung für Konkrete Kunst und Design angeboten. In Karlsruhe hatte das ZKM eine Teilzeitstelle im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu vergeben. Wenn sie sich entschließen könnte, weiter weg zu gehen, gab es Angebote genug. In Hamburg konnte man sich für diverse Promotionsstipendien bewerben. Am kunsthistorischen Institut in Florenz wurde eine Hilfskraft gesucht, und eine Galerie in Berlin benötigte dringend eine Verkäuferin. Ingolstadt, Hamburg, Florenz, Berlin. Allein bei der Vorstellung, in einer fremden Stadt mit Leander neu anzufangen, wurde ihr schwindlig. Täglich nach Stuttgart zu fahren wäre schon umständlich genug. Und Karlsruhe? Für den Weg hin und zurück musste sie drei Stunden einplanen. Frustriert stand sie auf und schaute nach Leander, der mit seinem Teddy im Arm friedlich eingeschlafen war. Der Mond hatte sich aus dem Dachfenster davongestohlen. Aber sein
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