Blutiger Sand
steinernen Klippen-Palast schaut, einen Ellbogen in die Rippen.
„Aua!“
Als wir hinunterklettern, geht Mike voran, reicht mir galant seine Hand und hilft mir über die schwierigsten Stellen. Als er daraufhin auch Orlando behilflich sein will, bekommt er eine Abfuhr. „Ich schaff das“, zischt ihn mein Freund an.
Die Sonne ist wieder herausgekommen. Schüchterne Strahlen beleuchten die schroffen graubraunen Felswände. Ein Regenbogen spannt sich über den Canyon.
Orlando bleibt zurück, fotografiert ihn ein Dutzend Mal. Plötzlich stößt er einen gellenden Schrei aus.
Entsetzt blicke ich mich um. Eine Schlange bewegt sich keine zwanzig Zentimeter von seinen Füßen gemächlich über den Weg. Orlando ist zu einer Salzsäule erstarrt.
Die Leute vor uns recken die Köpfe, bekommen aber nicht mit, was los ist.
Mike zieht blitzschnell ein Messer aus der Seitentasche seiner Cargo-Hose und wirft es aus ein paar Metern Entfernung zielsicher auf das Biest. Trennt ihm den Kopf ab.
„Oh mein Gott, danke“, flüstere ich erleichtert. „War das eine Klapperschlange?“
„Ja, eine kleine, fast ein Baby.“ Und da ist es wieder, dieses jungenhafte Grinsen, das mir so gut gefällt.
Beinahe vergesse ich darauf, den völlig aufgelösten Orlando zu trösten. Er hat sich auf einen Stein gesetzt und schluchzt herzzerreißend.
„Das war ein Schlangenbaby“, wiederhole ich Mikes Worte. „Die hat noch gar kein Gift zum Verspritzen gehabt.“
„Hältst du mich für vollkommen teppert!“
Bevor er richtig hysterisch wird, lasse ich ihn lieber in Frieden und folge mit Mike den anderen Touristen, die mittlerweile bereits beim Cliff Palace angelangt sind.
Als er mir die verschiedenen Häuser und Räume erklärt, bemühe ich mich, ihm zuzuhören, obwohl auch mir der Schrecken nach wie vor in den Knochen sitzt.
„Du siehst, wie großzügig sie damals gebaut haben. Jede Familie hatte mehrere Räume zur Verfügung. Und das ist eine Kiva.“ Er deutet auf eine große runde Vertiefung in der Erde. „Das Dach existiert nicht mehr. Früher ist man nur durch ein Loch in der Mitte des Daches über eine Leiter hineingekommen. Kivas sind Zeremonienräume, vergleichbar euren Kirchen vielleicht.“
„Und wofür ist das kleine Loch da unten gut?“
„Das ist ein Sipapu. Der symbolische Eingang zur Unterwelt. Die Ureinwohner haben geglaubt, dass die Menschen aus der Unterwelt kommen.“
Auch ich glaube mich plötzlich in der Unterwelt zu befinden. Der Himmel hat sich dunkelgrau verfärbt. Im nächsten Moment prasseln taubeneigroße Hagelkörner auf Mutter Erde nieder.
Die ganze Gruppe verharrt im Schutz der überhängenden Felsen. Ängstlich drängeln sich die Leute aneinander.
Orlando schließt sich uns wieder an. Er sieht sehr blass aus. Ich lege meinen Arm um seine Schultern.
Und wieder ertönt ein Schrei. Dieses Mal hat nicht Orlando geschrien, sondern die Rangerin. Ein junger Mann wäre beinahe in die Kiva gestürzt. Sie hat ihn gerade rechtzeitig an den Armen schnappen können, sonst wäre er drei, vier Meter hinuntergefallen.
„Mir reicht’s! Hoffentlich hört es bald zu hageln auf. Wird Zeit, dass wir hier wegkommen“, sagt Orlando.
„Ich fürchte, wir haben den Zorn der Geister der alten Anasazi erregt.“
Obwohl ich einen Scherz gemacht habe, sagt Mike: „Du hast Recht. All diese Touristen stören ihre Ruhe. Zuerst die Schlange, jetzt der Hagel und beinahe ein Unfall? Womöglich passiert noch Schrecklicheres.“
Ich kann nicht glauben, dass er es ernst meint. Muss aber unwillkürlich wieder an die vielen Polizisten oben auf dem Kamm der Mesa denken.
Als der Hagel aufgehört hat, drängt Mike darauf, zum Visitor Center zu gehen.
Wir nehmen nicht denselben Weg zurück, sondern müssen durch eine Felsspalte, die höchstens einen Meter breit ist, über eine senkrechte Leiter hinaufklettern.
Ich werfe einen Blick in den Abgrund zwischen den Felsen.
„Da bringen mich keine zehn Pferde rauf“, sage ich mit zitternder Stimme.
„Pferde kommen da nicht durch“, scherzt Orlando. Er scheint seinen Schock von vorhin überwunden zu haben. „Sie leidet unter Höhenangst“, erklärt er Mike.
„Hier ist noch nie jemand runtergefallen“, sagt Mike.
„Können wir nicht so zurückgehen, wie wir gekommen sind?“
„Nein. Das ist nicht erlaubt. Da kommt schon die nächste Gruppe.“ Er deutet auf den gegenüberliegenden Steig, den ich so bravourös hinter mich gebracht habe.
Tatsächlich klettern dort gerade
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