Blutiger Sand
ein Dutzend vermummte Touristen herum.
„Da vorne geht es mindestens tausend Meter in die Tiefe, und ich habe nichts als morsche Holzsprossen unter meinen Füßen! Das schaffe ich niemals!“
„Du schaffst das, Kafka! Wenn die das kann, ist es für dich ein Kinderspiel.“ Orlando deutet auf die dicke Amerikanerin, die als Letzte der Gruppe die Leiter in Angriff nimmt.
Er stupst mich an. „Mach schnell. Zur Not kannst du dich an ihren fetten Hintern klammern, wenn dir schwindlig wird. Außerdem bin ich hinter dir und fang dich auf. Du weißt, ich bin stärker als du.“
Seine Angeberei beruhigt mich nicht wirklich.
Ich wage mich auf die erste Sprosse. Nicht hinunterschauen, ermahne ich mich selbst und nehme die zweite in Angriff. Auf der vierten beginnt sich in meinem Kopf alles zu drehen. Gleich wird mir schwarz vor Augen werden und dann … das Nichts, die Unendlichkeit ...
„Die Sprossen sind viel zu eng beieinander. Dazwischen kannst du nicht durchrutschen.“
Orlandos Worte beruhigen mich ein bisschen. Tapfer steige ich auf die fünfte Sprosse und stoße mit dem Kopf heftig an das riesige Hinterteil der Amerikanerin.
Sie beginnt hysterisch zu kreischen und mich zu beschimpfen.
Ich entschuldige mich betreten.
Sie hört nicht auf zu schimpfen. Ich habe Ohrensausen und verstehe kein Wort. Orlandos und Mikes Gelächter hinter mir macht die Sache nicht besser.
„Geh endlich weiter, du blöde Kuh“, murmle ich auf Deutsch.
„Das habe ich gehört, Kafka“, zwitschert Orlando fröhlich.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, fluche ich, während ich mich die nächsten Sprossen hinaufschwinge. Erst als ich mir ausmale, wie sich meine klammen Finger um die ausladenden Hüften der Dicken krallen und ich mich halb bewusstlos von ihr hochziehen lassen würde, muss ich selber lachen und schaffe die letzten Meter, ohne ohnmächtig zu werden.
Oben beim Ausgang angelangt, möchte ich zuerst einmal eine Zigarette.
„Lasst uns lieber zum Auto gehen“, sagt Mike.
Wahrscheinlich ist in Nationalparks Rauchen streng verboten, denke ich und folge ihm.
Kaum sitzen wir in unserem Wagen, dreht er einen Joint und reicht ihn als Erstes mir. Ich greife sofort danach, obwohl ich mir gerade eine Zigarette angezündet habe. Orlando ist ebenfalls ganz gierig auf einen Zug. Wir teilen uns den Joint zu dritt.
Mike bietet sich an zu fahren. Dankbar überlasse ich ihm das Steuer. Meine Hände zittern immer noch.
Als wir an der Weggabelung ankommen, von der aus wir vorhin die vielen Autos gesehen haben, bitte ich Mike anzuhalten.
„Ich bin mir sicher, dass der Mord an der alten Anthropologin und ihrem Sohn damals genau dort unten stattgefunden hat“, sage ich und steige aus.
Keine Autos. Keine Polizei.
„Und was willst du jetzt dort machen? Die Geister der Toten beschwören?“
„Sei still, Orlando, ich muss nachdenken. Warum hat diese Anthropologin ausgerechnet hier Rast gemacht? “
„Ich weiß zwar nicht, wovon du sprichst, aber hier in der Nähe befindet sich die Rekonstruktion eines Pithouses“, sagt Mike. „Pithouses waren die Vorläufer der Kivas …“
„Und deswegen mussten eine alte Anthropologin und ihr Sohn sterben.“
„Wie bitte?“ Mike wirkt sichtlich irritiert.
„Mein Bedarf an den Überresten indianischer Ureinwohner ist für heute gedeckt“, spricht Orlando ein Machtwort.
Als wir beim Ausgang angelangt sind, kann ich es mir nicht verkneifen, den Mann an der Kasse zu fragen, ob heute im Nationalpark etwas passiert sei.
„Ein Motorradfahrer ist auf der regennassen Straße ins Schleudern geraten und den Abhang hinuntergestürzt. Der Kerl hat ein Riesenglück gehabt, hat sich nur ein paar Rippen gebrochen. Wahrscheinlich war er in der Kurve zu schnell unterwegs.“
„Und du hast gedacht, es hätte wieder ein Verbrechen gegeben. Du leidest echt unter Verfolgungswahn, Kafka.“ Orlando tippt sich mit dem Finger auf die Stirn.
Ich wundere mich erneut, warum Mike keine Fragen stellt. Orlando und ich haben diesen schrecklichen Mord hier in Mesa Verde immerhin mehrmals erwähnt.
Bei unserem Motel in Cortez lassen wir Mike aussteigen. Holen unsere Sachen und sagen Goodbye.
Orlando verabschiedet sich kurz und knapp mit Handschlag von Mike.
Ich umarme ihn mit den Worten: „Wir müssen heute noch nach Taos. Sehen uns dann spätestens in Albuquerque beim ‚Gathering of Nations‘ wieder.“
„Okay.“ Er klingt enttäuscht.
Kaum haben wir Cortez hinter uns gelassen, sagt Orlando: „Mit
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