Blutiger Spessart
seinen Schreibtisch. »Danke für deine Fürsorge, aber diese roten Akten erledigen sich nicht von selbst.«
Brunner grüßte schulterzuckend und ging.
Kaum hatte er die Türe hinter sich geschlossen, verlor Kerner die mühsam aufrechterhaltene Fassung. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und schloss die Augen. Wie sollte er diese ständige Anspannung auf die Dauer nur aushalten? Dieses Gespräch mit Brunner war ja nur der Anfang. Ein Kinderspiel, verglichen mit dem, was wahrscheinlich noch auf ihn zukommen würde. Wie im Zeitraffer rasten die Bilder der vergangenen Nacht an seinem geistigen Auge vorüber. Hatte er bei seiner nächtlichen Verschleierungsaktion wirklich an alles gedacht? Hatte er alle Spuren beseitigt, die auf ihn als Täter hinwiesen? Er zermarterte sich das Gehirn, kam aber auf keinen Fehler. Trotzdem wurde er das peinigende Gefühl nicht los, etwas Wesentliches übersehen zu haben. Aber das war vermutlich normal in einer solchen Situation. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt den Begriff Normalität verwenden konnte. Er musste auf jeden Fall wieder zu seiner alten Nervenstärke zurückfinden. Irgendwann würde man ihm die Erschütterung wegen des Attentats und der toten Polizisten nicht mehr abnehmen.
Er griff über den Schreibtisch und holte den Kommentar zum Strafgesetzbuch zu sich heran. Mitten in der Bewegung verharrte er. Unwillkürlich umfasste er das dicke Gesetzbuch mit beiden Händen. Dieses Gesetz war seit vielen Jahren die Richtschnur seines beruflichen Handelns. Mit ihm verfolgte er den Strafanspruch des Staates gegen Bürger, die gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen hatten. Dieses Buch war ihm vertraut wie sonst keines, viele Textstellen kannte er auswendig. Auf fast jeder Seite befanden sich Randvermerke von ihm. Jetzt, in diesem Moment, fühlte er zwischen sich und dem Buch eine unsichtbare Mauer wachsen. Was war das? Vielleicht das Gefühl, dass er seit den gestrigen Ereignissen nicht mehr das Recht hatte, mit reiner Gesinnung anderen Menschen ihr Unrecht vorzuhalten? Seit heute Nacht gab es in dem Buch auch einige schwergewichtige Paragraphen, gegen die er verstoßen hatte. Er gehörte nicht mehr zu den Guten. Die Bewerbung kam ihm wieder in den Sinn. Wenn er sich nach Gemünden an ein relativ kleines Amtsgericht versetzen ließ, würde ein anderer seine Stelle hier einnehmen. Nach einigen Wochen wäre er wahrscheinlich aus dem Fokus, und es konnte Gras über die Angelegenheit wachsen.
In den nächsten Tagen musste er wohl eine Entscheidung treffen. Allerdings würden weder Rothemund noch Brunner ihn verstehen, wenn er tatsächlich ging.
Mit einer langsamen Handbewegung wischte er sich über das Gesicht, dann griff er entschlossen nach der ersten Akte. Die vor ihm aufgehäuften Alltäglichkeiten zwangen ihn zur Konzentration. Außerdem musste er sich auf die routinemäßige wöchentliche Dienstbesprechung mit seinen Staatsanwälten vorbereiten, die ihm als Abteilungsleiter unterstellt waren. Das normale Leben verlangte seine Aufmerksamkeit. Es würde ihn viel Energie kosten.
Während er im Gesetzbuch blätterte, fiel sein Blick auf den Terminkalender. In vier Tagen war Steffis Geburtstag, und er hatte noch kein Geschenk.
14
Am späten Nachmittag fuhr Trospanini zur Fundstelle, um den Abtransport des Ferraris zu überwachen. Der Consigliere blickte dem Abschleppfahrzeug nach, das den Wagen zur Vertragswerkstatt nach Würzburg brachte. Die Reparatur würde ein Vermögen kosten.
Trospanini machte sich so seine Gedanken. Er hatte Ricardo schon öfters aus schwierigen Situationen herausboxen müssen. Der Bursche war ein leichtsinniger, hormongesteuerter Tropf, der schwerpunktmäßig nur die Frauen im Kopf hatte. Dabei war der Junge nicht dumm. Er hatte ein ausgezeichnetes Abitur abgelegt. Nur das BWL-Studium, das er danach begonnen hatte, schleppte sich träge dahin. Die ewige Unvollendete. Der Alte schimpfte zwar immer über die Lebensweise seines einzigen Sohnes, hatte aber bisher keine wirklich wirksamen Konsequenzen gezogen. Bisher waren alle Schwierigkeiten, in die er sich gebracht hatte – und das waren einige –, irgendwie mit Geld zu regeln gewesen.
Die Tatsache, dass er jetzt nach diesem Unfall spurlos verschwunden war, bereitete Trospanini Kopfzerbrechen. Gut, es konnte natürlich noch immer möglich sein, dass er von einem anderen Fahrzeug mitgenommen worden war und bei irgendeiner Dorfschönen seinen Rausch ausschlief. Nachdem der Ferrari
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