Blutiger Spessart
etwas entgangen.
Er ging in sein Arbeitszimmer und schaltete den PC ein. Wenig später lief das Geschehen erneut vor ihm ab. Mit eisernem Willen zwang er sich dazu, nur auf die Umgebung des Bettes zu achten, auf dem Steffi lag. So sehr er sich aber auch anstrengte, er konnte keinen spezifischen Hinweis erkennen, der ihm die Identifizierung des Kellers ermöglicht hätte. Auch das einfache Bettgestell war völlig neutral. Ein klappriges Eisenteil, das eigentlich mehr wie Schrott aussah. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er angestrengt jede Bewegung des Verbrechers, während dieser Steffi die Spritze setzte. Als der Film abbrach, lehnte er sich erschöpft in seinen Bürosessel zurück und schloss die Augen. Irgendeine Stimme ganz hinten in seinem Gehirn flüsterte ihm zu, dass er etwas übersehen hatte. Aber was? Erneut klickte er das Icon an, das den Film startete.
Bei der dritten Wiederholung brannten seine Augen vom intensiven Hinstarren. Plötzlich zuckte er zusammen. Blitzschnell betätigte er die Maustaste und hielt das Video an. Vorsichtig spulte er eine Sequenz zurück. Deutlich war in Nahaufnahme der Stuhl zu sehen, auf dem der eine Maskierte gerade seine Tasche öffnete, um die Spritze herauszuholen. Irgendetwas an dem Stuhl kam ihm bekannt vor. Ein kleines Detail, das er in einem ganz anderen Zusammenhang schon einmal gesehen hatte. Kerner zermarterte sich das Gehirn. Langsam zoomte er das Standbild heran, bis die Maserung des Holzes den ganzen Bildschirm ausfüllte. Er verschob das Bild, damit die Stelle, die ihn interessierte, mittig zu sehen war. Ja! Da war ein ins Holz eingeschnitztes, verschnörkeltes K. Wo hatte er so einen Stuhl schon einmal gesehen? Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich. Die Erkenntnis traf ihn wie ein kleiner Schock. Natürlich, das war ein Wirtshausstuhl! Kerner hatte auf einem solchen Exemplar gesessen, als er vor einigen Monaten mit Steffi die Klingenmühle in Massenbuch besucht hatte. Massenbuch war eine kleine Ortschaft, sie lag auf einem Hochplateau des Spessarts oberhalb von Kleinwernfeld. Bei der Klingenmühle handelte es sich um ein bekanntes Ausflugslokal, in dem man gut bürgerlich essen konnte.
Kerner lehnte sich zurück. Was konnte er mit dieser Erkenntnis anfangen? Es war wohl nicht zu erwarten, dass seine Freundin in einem Keller der Klingenmühle gefangen gehalten wurde. Viel wahrscheinlicher war, dass die Gastwirtschaft den Stuhl irgendwann entsorgt hatte und er in diesem Keller gelandet war, wo er jetzt stand. Kerner vermutete, dass der Stuhl in der Nähe seines Ursprungortes geblieben war. Das konnte ein Hinweis sein, aber sicher kein Beweis.
Er zog den Stick ab und legte ihn zur Seite. Er würde bei seinem vorgefassten Plan bleiben und Emolino direkt angehen. Mit einem persönlichen Angriff würde der Alte wohl nicht rechnen. Damit war das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Dass er dabei Kopf und Kragen riskierte, war Kerner egal. Für Steffi würde er alles tun. Das, was sie jetzt erleiden musste, hatte sie schließlich ihm zu verdanken. Emolino hatte ihn gnadenlos an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Kerner erhob sich und stieg in den Keller seines Hauses hinunter. In einem der Räume, den Schmitt bei seinem heimlichen Besuch als uninteressant eingestuft hatte, stand in einer Ecke, teilweise verdeckt von irgendwelchen Gegenständen, eine unscheinbare Metalltruhe. Die auf ihr lagernden gebündelten Zeitungen zeugten davon, dass das Behältnis schon lange nicht mehr geöffnet worden war. Kerner räumte die Bündel zur Seite und stellte an einem Vorhängeschloss eine Zahlenkombination ein. Nachdem er eine Kunststofffolie abgehoben hatte, kamen, ordentlich zusammengelegt, militärische Kleidungsstücke zum Vorschein. Obenauf lagen ein Tarnanzug und eine Feldmütze. Etwas tiefer, in eine alte Militärdecke eingehüllt, ein paar Kampfstiefel. Kerner legte alles zur Seite und holte eine Plastiktüte mit einem schwereren Gegenstand heraus. Darin befand sich eine schwarze ballistische Schutzweste. Mit ausgestreckten Armen hielt er sie vor sich und musterte sie eingehend. Diese Schutzweste hatte ihm einmal das Leben gerettet. Während des Einsatzes in Kuwait gerieten sie in ein kurzes Feuergefecht mit den Geiselnehmern, wobei er einen Treffer aus einer Pistole abbekam. Die Weste hielt. Er hatte zwar ein heftiges Schusstrauma im Schulterbereich davongetragen, das ihm noch wochenlang zu schaffen machte, aber er war am Leben – was man von den
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