Blutiger Spessart
vom Licht der vor dem Haus stehenden Straßenlaterne an die Decke des Schlafzimmers gezeichnet wurde. Als wäre es gestern gewesen, hörte er wieder die Stimme Emolinos, der diese Drohung mehrfach ausgestoßen hatte.
Kerner rief sich den Anrufer ins Gedächtnis zurück. Es waren zwar Emolinos Worte, aber natürlich nicht seine Stimme. Das konnte ja nicht möglich sein, da der Verbrecher tot war. Irgendjemand versuchte, ihn zu bedrohen, und benutzte dabei Emolinos Formulierung. Kerner nahm sich vor, wieder regelmäßig seine Schusswaffe zu tragen. In der letzten Zeit war er darin nachlässig geworden, weil er die befremdlichen Blicke seiner Mitarbeiter gespürt hatte, wenn sie ihn mit dem Revolver am Gürtel gesehen hatten. Aber offensichtlich war die Angelegenheit noch nicht ausgestanden. Würde das jemals ein Ende nehmen?
Irgendwann gegen Morgen schlief er dann ein.
Nur Brunner, Rettig und eine Schreibkraft waren von der ehemals zehn Mann starken Sonderkommission
Spessartblues
übrig geblieben. Sie standen in Kontakt mit dem Landeskriminalamt, das trotz der geänderten Vorzeichen einen Undercover-Beamten in der Organisation des ehemaligen Emolino-Klans einschleusen wollte. Gerade jetzt sah man eine günstige Gelegenheit, die Bande zu zerschlagen, und hoffte, auf diesem Wege auch Informationen über andere Mafiafamilien in Franken zu erhalten.
Zwei Tage vor der Amtseinführung Kerners, zu der Brunner und Rettig als persönliche Gäste Kerners eingeladen waren, brachte der Amtsbote am frühen Morgen die Post, darunter einen wattierten Umschlag, der einen körperlichen Gegenstand enthielt. Er war an Brunner persönlich adressiert und trug keinen Absender.
Der Kriminalbeamte zögerte einen Augenblick. Die Verbrecher, die er jagte, waren durchaus fähig, eine Briefbombe zu verschicken. Schließlich verwarf er den Gedanken und öffnete den Umschlag vorsichtig mit dem Brieföffner. Er enthielt ein einzelnes Blatt Papier sowie in einer kleinen Plastiktüte die Hülse einer Gewehrpatrone und ein total deformiertes Metallstück, das sich beim genaueren Hinsehen als deformiertes Projektil herausstellte.
Brunner zog sich Gummihandschuhe an, dann nahm er das Blatt vorsichtig in die Hand. Es handelte sich offensichtlich um einen Computerausdruck. »FOLGE DER SPUR DES JÄGERS«, stand da in Großbuchstaben. Und darunter RICARDO EMOLINO.
Brunner betrachtete nachdenklich die Nachricht und die Gegenstände. Durch die Plastikfolie konnte er den Boden der Hülse sehen. Kaliber .35 Whelen. Dieses Patronenkaliber war ihm völlig unbekannt. Was hatte das zu bedeuten? Wenn das ein Hinweis auf den Mörder von Ricardo Emolino sein sollte, wo kam der jetzt her? Ricardo war seit Wochen beerdigt.
Er schob die Botschaft und die Plastiktüte wieder vorsichtig in den Umschlag und begab sich in die kriminaltechnische Abteilung des Präsidiums. Der Kriminalbeamte drückte einem der Techniker den Umschlag in die Hände.
»Das ist heute mit der Post gekommen. Bitte Umschlag und Inhalt auf Fingerabdrücke untersuchen. Drinnen sind eine Patronenhülse und ein deformiertes Projektil. Ich muss alles wissen, was man an Wissenswertem herausholen kann. Vergleicht es auch mit den Geschosssplittern, die bei der Leiche von Ricardo Emolino gesichert wurden.«
»Bis wann brauchen Sie das Ergebnis?«, wollte der Techniker wissen. »Wir sind bis zum Stehkragen mit Arbeit eingedeckt.«
»Wenn möglich schon gestern«, gab Brunner knapp zurück.
Der Mann gab ein unwilliges Brummen von sich, versprach dann aber, sein Möglichstes zu tun.
Zurück in seinem Büro, ging Brunner ins Internet und gab in der Suchmaschine ».35 Whelen« ein. Er bekam erstaunlicherweise 418.000 Treffer, davon über 90 % auf ausländischen Servern. Auf einer amerikanischen Seite erfuhr er, dass es sich um ein Projektil mit einem Durchmesser von 0,358 Inches handelte, was 9,1 mm entsprach. Eine ordentliche Pille, dachte Brunner. Nach der Beschreibung wurde diese Patrone praktisch nur bei der Jagd auf größeres Wild verwendet. Ihre Präzision war für den genannten Zweck gut, aber nur auf verhältnismäßig kurze Entfernungen. Also sicher keine Scharfschützenpatrone. Allerdings wurde ihre Tötungswirkung als ausgesprochen zuverlässig beschrieben.
Brunner starrte einen Moment nachdenklich auf die Tastatur seines Rechners, dann drehte er sich um und griff sich das Telefon. Eine Minute später war er mit der Unteren Jagdbehörde im Landratsamt Main-Spessart verbunden. Dort wurden
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