Blutiges Eis
dachte, Ms. Rouault versuche, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, oder trauere ihrer alten Liebe nach. Doch dann war ein leises, flatterndes Geräusch zu hören, und er merkte, dass sie schnarchte.
»Ich glaube, wir sind hier fertig, nicht?«, sagte Delorme.
Cardinal griff hinüber, drückte die Zigarette aus und nahm das Champagnerglas aus den alten Fingern. Die Flasche auf dem Boden war leer.
22
C ardinal und Delorme fuhren zum Regent Hotel und gingen auf ihre Zimmer, Delorme im Erdgeschoss und Cardinal im dritten Stock. Als die Klapperkiste von einem Fahrstuhl ewig nicht kam, wich er in das feuchtkalte Treppenhaus aus.
Cardinal stand der Sinn jetzt nur noch nach einer Dusche und einem Nickerchen vor dem Essen, doch er hatte kaum die Schuhe ausgezogen, als es an der Tür klopfte. Er machte auf, und Calvin Squier grinste ihm wie ein alter Kumpel aus der Burschenschaft entgegen.
»John, hören Sie. Bevor Sie was sagen, möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Ich weiß, dass ich Ihnen da oben große Probleme gemacht habe, und ich möchte nur, dass Sie wissen –«
Cardinal machte die Tür zu.
»John, ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«
»Wie kommt es, dass ich jedes Mal, wenn Sie mir helfen, in der Scheiße lande?«, fragte Cardinal durch die Tür.
»Nein, ehrlich, diesmal bin ich auf Ihrer Seite, hundert Prozent. Und nach Ihren Befragungen heute kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die Information, die ich für Sie habe, nicht bitter nötig hätten. Außerdem ist etwas passiert, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«
Cardinal machte die Tür mit einem Ruck auf. »Woher wissen Sie, dass ich jemanden befragt habe?«
»Hier im Flur kann ich nicht reden.«
Cardinal trat zur Seite, und Squier schob sich an ihm vorbei, indem er seinen Mantel aufknöpfte.
»Lassen Sie den ruhig an«, sagte Cardinal. »Sie bleiben nicht. Und wie haben Sie mich überhaupt hier gefunden? Ich vermute, Sie haben mich auch verwanzt.«
Squier schien getroffen. »Natürlich nicht. Sehen Sie, wasSie nicht wahrhaben wollen, ist, dass ich Ihnen traue, obwohl Sie mir nicht trauen.« Er hielt die Hände hoch, wie um weitere Beschuldigungen abzuwehren. »Ich weiß, ich weiß. Ich hab Ihnen Probleme gemacht. Deshalb bin ich hier. Ich will alles tun, um es wieder gutzumachen.«
»Sie könnten damit anfangen, dass Sie mir erzählen, wer Simone Rouault angerufen und versucht hat, ihr den Mund zu stopfen.«
»Also, ich war’s nicht, das garantier ich Ihnen.«
»Frankokanadier. Ein älterer Mann. Angeblich vom CSIS. Nach meiner Erfahrung ist das durchaus denkbar.«
»Könnte eins von den hohen Tieren in Ottawa gewesen sein. Ich hab keine Möglichkeit, das nachzuprüfen. Sehen Sie, das wollte ich Ihnen ja sagen: Ich hab gekündigt.«
»Sie haben gekündigt?«
»Sie haben richtig gehört. Calvin Squier und der CSIS sind geschiedene Leute.«
»Ich bin sicher, dass es für beide Teile das Beste ist.«
Squier setzte sich auf das Bett in seiner Nähe. Er seufzte tief, wie unter einer Woge der Verzweiflung.
»John, es kommt der Moment im Leben eines Mannes, wo er sich sagt, halt mal, Junge, und dann das Richtige tun muss. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich über die Art, wie der CSIS diese Sache gehandhabt hat, von Anfang an nicht glücklich gewesen. Ich versuche, einfach ein guter Soldat zu sein, meinen Job zu machen und nicht zu viele Fragen zu stellen, aber wenn es so weit geht, dass eine laufende Morduntersuchung von vorn bis hinten behindert wird, na ja, da ist bei mir die Grenze erreicht.«
»Ach, sieh mal einer an. Und was mag wohl zu diesem Sinneswandel geführt haben?«
»Na ja, es war, glaube ich, als Sie mich festgenommen haben. Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich arbeite – arbeitete – für eine wichtige Organisation, und ich wolltedaran glauben, dass meine Vorgesetzten moralisch handeln. Aber es ist schon erstaunlich, wie es einem zu völlig neuen Einsichten verhelfen kann, wenn man mit Handschellen, das Gesicht nach unten, am Boden liegt. Auf einmal dämmerte mir, dass ich für Leute arbeite, denen solche Kleinigkeiten wie Wahrheit und Gerechtigkeit vollkommen egal sind.«
»Und die amerikanische Schiene?«
»Also, jetzt machen Sie sich über mich lustig, und wahrscheinlich hab ich’s nicht besser verdient. Aber Sie wissen genau, was ich gesagt habe. Ich bin zum CSIS gegangen, weil ich an bestimmte Dinge glaube. Und ich habe begriffen, dass meine Vorgesetzten diese Überzeugungen nicht
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