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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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träumte. Für mich ist das eben die Realität, das Haus, das ich im Geist noch vor mir sehe. Und nicht das hier.«
    »Es tut mir wirklich leid, Ihnen das zuzumuten, Sir.« Cardinal wusste nicht so recht, wieso er ihn dauernd Sir titulierte. Das machte er so gut wie nie. Der verdammte Akzent.
    »Nein, nein. Keineswegs. Eigentlich ist es vermutlich gut für mich. Den Drachen erlegen, so etwas in der Art. Es ist nichts weiter als ein kleines Haus in einer ruhigen Straße. Keine Folterkammer. Nein, nein, ich bin sicher, es ist ganz gut so.« Hawthorne schlug sich auf die Schenkel. »Worauf warten wir! Nach Ihnen.«
    An der Tür begrüßte sie Al Lamotte, der gegenwärtige Eigentümer. Delorme hatte mit ihm telefoniert und den Termin mit ihm vereinbart. Er war wie sie Mitte dreißig und konnte sich kaum an die politischen Ereignisse von 1970 erinnern. Das Haus hatte seit damals ein Dutzend Mal den Besitzer gewechselt; Lamotte wohnte hier seit zwei Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn. Frau und Sohn waren gerade nicht zu Hause.
    »Hören Sie«, sagte er, nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, »ich will nicht im Weg rumstehen, okay? Sie gehen einfach überall hin, wo Sie hinmüssen, und ich bin so lange in der Küche.«
    »Danke, Mr. Lamotte«, sagte Cardinal. »Sehr freundlich von Ihnen.«
    Lamotte machte eine abwehrende Handbewegung und ging in die Küche.
    Hawthorne hatte währenddessen dagestanden, die Hände unbeschwert in die Hüften gestemmt, und sich umgesehen. Vor dem Fenster glitzerten Bäume und dahinter ein Kirchturm in der Sonne.
    Cardinal sah ihn erwartungsvoll an.
    »Das Wohnzimmer habe ich bis zuletzt nicht gesehen. Es war fast völlig leer. Ein paar Schlafsäcke, ein paar harte Stühle. Sie hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass die Sache länger als ein paar Tage dauern würde. Sie hielten mich die ganze Zeit im Schlafzimmer gefangen. Immer eine bewaffnete Wache an der Tür. An viel mehr kann ich mich bei dem Zimmer nicht erinnern. Das Haus war von Polizei und sechstausend Armeesoldaten umstellt. Ich wollte einfach nur raus hier, bevor uns die Kugeln um die Ohren flogen.« Hawthornes Stimme zitterte ein wenig. Ein Riss in der glatten Oberfläche.
    »Ich war die ganze Zeit nur im Schlafzimmer, außer wenn ich zur Toilette musste. Selbst da sind sie mit mir reingegangen, verflucht noch mal. Das war deprimierend.« Hawthornedrehte sich zu ihnen um. »Hören Sie, ich glaube wirklich nicht, dass ich mit irgendwelchen großen Offenbarungen aufwarten kann. Es ist alles zu lange her. Und natürlich wollte ich mich nicht erinnern, ich wollte vergessen.«
    »Können wir einen Blick ins Schlafzimmer werfen?« Die Frage kam von Delorme, und Cardinal war froh. Es war nicht leicht, einen so beherrschten Mann wie Hawthorne zittern zu sehen.
    Der Engländer grub das Kinn in die Brust. Mehr brachte er nicht zustande, um sein Einverständnis zu bekunden. Dann drehte sich Delorme um, und er folgte ihr wie ein kleiner Junge durch den Flur.
    Cardinal blieb im Flur, in den aus dem Schlafzimmer ein heller Lichtstrahl schräg einfiel. Hawthorne stand vorgebeugt am hinteren Ende des Zimmers, immer noch das Kinn an der Brust, als ob ihm ein scharfer Wind entgegenbliese.
    Derzeit war es ein Kinderzimmer, nach der Sportausrüstung zu urteilen die Domäne eines zehn- oder elfjährigen Jungen. In eine Ecke kuschelte sich ein riesiger Teddybär. An der Wand hing ein bunter Drachen und wartete auf den Sommer, daneben ein Poster von den Montreal Canadiens. Eine gelbe Kommode, deren Schubladen teilweise heraushingen, war von Videospielen, Comic-Heften und Sammelkarten mit Hexen und Zauberern übersät. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein Computer. Auf dem Bildschirmschoner richtete sich ein Tyrannosaurus Rex brüllend auf. Über dem Zimmer lag ein leichter Geruch nach Turnschuhen.
    »Oje«, sagte Hawthorne leise.
    Cardinal und Delorme warteten. Hawthorne verlagerte sein Gewicht und sah sich um.
    »Ich bin froh, dass es ein Kinderzimmer ist«, sagte er ohne weitere Erklärung. Cardinal hatte ohnehin nicht den Eindruck, dass er mit ihnen sprach. »Es ist, als ob man ein Schlachtfeld wiedersieht. Gettysburg oder Poitiers. Mal da gewesen? Einpaar stille Hügel, Blumen und Gras, die im Wind wehen. Man ahnt nicht, was sich da abgespielt hat.
    Natürlich kommt es einem heute so unbedeutend vor. Zwei Entführungen, ein Mord. Verglichen mit dem elften September nichts weiter als ein kurzer Echoimpuls auf dem

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