Blutiges Eis
zu Hause fühlte.
»Wissen Sie, Detective, der CSIS hat bei mir angerufen«, sagte er, als Cardinal und Delorme ihn in seinem Haus in Westmount abholten. »Sie wollen unbedingt verhindern, dass ich mit Ihnen rede.«
»Der CSIS will, dass überhaupt niemand mit uns redet«,sagte Cardinal. »Es gibt Aspekte bei diesen Ermittlungen, die kein allzu gutes Licht auf ihre alte Garde werfen.«
»Nun ja, das soll mir recht sein. Ich persönlich bin der Meinung, dass sie in der Oktoberkrise völligen Murks gemacht haben. Wenn sie anders damit umgegangen wären, könnte Raoul Duquette noch am Leben sein.«
»Hat der Anrufer seinen Namen genannt?«
»Nein. Was mir die Sache sofort suspekt machte. Es war ein älterer Mann – nun ja, muss er ja sein, falls er zu der alten Garde gehört –, möglicherweise Frankokanadier. Jedenfalls werde ich wegen eines anonymen Anrufs keine Morduntersuchung behindern.«
Ein kurzes Stück fuhren sie schweigend. Dann sagte Hawthorne: »Wissen Sie, ich bin schon oft gebeten worden, so etwas zu machen, aber ich habe schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit den Medien geredet. Das letzte Mal, dass sie an mich herantraten, war Oktober 2000 – dreißigster Jahrestag der alten Geschichte. Ich hab gesagt, nein, kommt nicht in Frage. Ohne mich. Ich möchte 1970 einfach vergessen – zumindest meine Rolle bei dem Ganzen. Andererseits vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an den armen Raoul Duquette denken muss, der da oben am Mount Royal begraben liegt.«
Delorme fuhr, und Cardinal saß auf dem Rücksitz, ein Arrangement, das sie sich in der Annahme ausgedacht hatten, dass Hawthorne bei Delorme auf ein verständnisvolleres, um nicht zu sagen, attraktiveres Ohr stoßen würde. Und die Rechnung ging auf. Kaum waren sie unterwegs, redete er drauflos, ohne dass sie groß nachhelfen mussten. »Die verdammten Medien«, sagte er. »Ich glaube, die Leute von der CBC hofften, ich würde etwas schrecklich Christliches sagen und meinen Entführern vergeben, aber tut mir leid, ich vergebe ihnen nicht. Mal ganz abgesehen davon, was sie mir angetan haben, vergessen die Leute immer, was meine Familie durchgemachthat. Wissen Sie, es gab einen Punkt, an dem die Medien mich für tot erklärten – am selben Tag, als Duquette ermordet wurde. Können Sie sich vorstellen, was sie damit meiner Frau angetan haben? Ich hatte einen vierjährigen Jungen, in Gottes Namen. Ihnen vergeben? Nein, danke. Meine Frau war danach nie mehr wie früher«, fügte Hawthorne hinzu. »Schlimmer für sie als für mich. Das kann ich ihnen nicht vergeben.«
Delorme bog Richtung Norden in eine Durchgangsstraße ein, die sie vorher als die zügigste Route nachgeschlagen hatte.
Hawthorne betrachtete im Vorbeifahren das Leben auf der Straße, das vor allem aus Jugendlichen auf Skateboards und arabischen Frauen mit Kinderwagen zu bestehen schien. Am Telefon hatte Hawthorne nicht die geringste Begeisterung für ihr Treffen gezeigt. »Hören Sie«, hatte er gesagt, »das war vor dreißig Jahren, das Leben muss weitergehen.« Und doch war Hawthorne nach der Entführung seltsamerweise in Kanada geblieben. Sogar in Quebec. Als er 1988 in den Ruhestand trat, war es in Montreal, der Stadt, in der er die schlimmste Erfahrung seines Lebens gemacht hatte. Cardinal fragte ihn jetzt danach.
»Nun ja, ich habe tatsächlich versucht, nach England zurückzukehren, wissen Sie. Hab zwei Jahre da gelebt. Aber man gewöhnt sich an eine andere Mentalität, eine andere Lebensart. Ehrlich gesagt, finde ich Großbritannien heutzutage unerträglich bieder, trotz des oberflächlichen Modernismus von Tony Blair. Es hat was Rückständiges – hinkt zwanzig Jahre hinter dem Rest der Welt hinterher.«
Er drehte sich um und sah Cardinal an. »Außerdem habe ich, trotz dieser Geschichte damals, die Kanadier immer gemocht. Die Leute, die mich entführt haben, waren Extremisten. Ich habe – bis heute – viele frankokanadische Freunde. Aber die Kanadier insgesamt sind das ideale Mittelding zwischen den bornierten Engländern und den aufdringlichenAmerikanern. Jedenfalls nach meiner Erfahrung. Vielleicht sind Sie anderer Meinung.«
»Ich weiß nicht«, sagte Delorme. »Einige meiner Verwandten sind unglaublich konservativ. Sie machen mir manchmal Angst. Sie wählen Typen wie Geoff Mantis.«
»Wie Sie sehen, schweige ich dazu lieber. Einmal Diplomat, immer Diplomat.«
Cardinal fand Hawthornes Akzent faszinierend. Oxford oder Cambridge, so viel wusste er, auch
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